„Das größte Lebenshindernis ist die Erwartung: Abhängig vom
Morgen, verliert sie das Heute..“ (Seneca)

BEREIT FÜR DIE STOA?

Die größten Missverständnisse über Stoiker

Wer sich erst seit kurzem mit der Stoa beschäftigt, wird bald feststellen, dass er/sie viele falsche Vorstellungen über Stoiker hatte. Das verwundert nicht, da die Stoa nicht zum Lehrplan an deutschen Schulen gehört und man allenfalls in der Umgangssprache auf die Bezeichnung „stoische Ruhe“ stößt, die Menschen beschreibt, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen und selbst angesichts widriger Umstände „gleichmütig“ wirken. Es gibt also viel Raum für zahlreiche Missverständnisse über Stoiker.

Missverständnis: Stoiker unterdrücken jede Emotion.

Richtig ist: Die Stoiker haben die Affekte (Gemütserregungen wie Zorn, Hass, Freude) immer als eine Gefährdung der Seelenruhe angesehen. Nur wer seine Affekte durch richtiges (vernünftiges) Urteilen überwindet, wird tugendhaft.

Aber: Der moderne Stoiker sieht Emotionen nicht als eine Krankheit an, die bekämpft werden muss, sondern eher als Symptome, die man beobachten und ggf. eindämmen sollte, damit eine Krankheit nicht zum Ausbruch kommt. Es geht also nicht um eine generelle Unterdrückung oder das Verbergen von Emotionen (anders als bei den aus Star Trek bekannten Vulkaniern, die durch konsequente Anwendung von Logik lernen, jedwede schadhafte Gefühlsregung im Keim zu ersticken). Im Gegenteil: Die Stoa ermuntert uns, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und über ihre Ursachen und Anlässe zu reflektieren. Bei ihrem Auftreten sollte man wachsam sein und genau beobachten, woher Sehnsüchte und Begierden kommen, welchen Ursprung aufkommende Gefühle von Neid und Wut in mir haben. Nur wenn ich sie frühzeitig wahrnehmen und einordnen kann, lässt sich vermeiden, dass sie mich in meiner rationalen Betrachtung beeinflussen. Ein Stoiker kann durchaus ein reiches Gefühlsleben haben, sollte sich aber nicht von Emotionen überwältigen oder manipulieren lassen. Worauf es ankommt, ist nicht, was wir empfinden, sondern wie wir auf unsere Empfindungen reagieren.

Missverständnis: Stoiker leben asketisch.

Richtig ist: Viele Stoiker neigen zur Härte gegen sich selbst und zur Lakonie. Sie sind streng in ihren Prinzipien und bedienen sich einer knappen, eher trockenen, schmucklosen Ausdrucksweise („Schweige meistens, oder sprich nur das Notwendige, und das nur mit wenigen Worten.“ Epiktet). Die Stoa hat für ihre Anhänger wenig Erbaulichkeiten im Angebot. Ihre Lehre ist voller Ernst und Pflichterfüllung.

Aber: Die Stoa lehnt Askese und Selbstkasteiung ab; sie ist auch nicht grundsätzlich genussfeindlich. Anders war dies bei der – mit der Stoa konkurrierenden – philosophischen Schule der Kyniker, die von ihren Anhängern unbedingte Bedürfnislosigkeit und Genügsamkeit forderte – wie dies der berühmte Diogenes in seiner Tonne vorlebte. Ein Stoiker kann dagegen durchaus Wohlstand erwerben, die schönen Dinge des Lebens genießen und Freundschaften pflegen – allerdings nur, solange er nicht sein Herz zu sehr daran hängt oder sich gar davon abhängig macht. Daher kann es für praktizierende Anhänger der Stoa sinnvoll sein, immer wieder einmal – als Übung – auf Genuss zu verzichten und zeitweise die schönen Dinge, an die man sich gewöhnt hat, zu verbannen, um zu testen, ob man noch weiß, was wirklich wichtig ist. Mit Askese hat das aber nichts zu tun.

Missverständnis: Stoiker kümmert nicht, was andere denken.

Richtig ist: Die Stoa gebietet, sich tugendhaft zu verhalten, ohne dabei zu sehr auf die Meinungen und Reaktionen anderer zu setzen. Nach der stoischen Grundhaltung der Autarkeia (αὐτάρκεια) sollte man sich nicht vorschnell der Meinung anderer anschließen oder ihre Erwartungen erfüllen.

Aber: Der Stoiker ist nicht gleichgültig gegenüber anderen Meinungen. Er ist durchaus zur Empathie fähig und berücksichtigt in seinen Situationsanalysen alle möglichen Meinungen. Jedoch wird er sich nicht vereinnahmen lassen. Der Stoiker bewahrt sich seine Unabhängigkeit – vor allem gegenüber einer dominanten „herrschenden Meinung“, die abweichende Meinungen vorschnell beiseite schiebt, oder gegenüber einem „Mainstream“, dem man sich nur allzu gerne freiwillig anschließt. Im Kern geht es also darum, dass die eigene persönliche Integrität nicht zur Disposition steht, unbedingt geschützt wird und nicht verhandelbar ist.

Missverständnis: Stoiker sind nicht politisch aktiv.

Richtig ist: Es fällt schwer, sich Stoiker als politische Aktivisten vorzustellen, wo doch ihr Handeln auf das fokussiert sein soll, was sie selbst unter Kontrolle haben – und dazu gehört die Politik bestimmt nicht. Es fällt ebenso schwer, sich Stoiker als sozial engagiert vorzustellen, wo doch die eigene Seelenruhe für sie das höchste Ziel darstellt.

Aber: Stoiker standen immer mit beiden Beinen im Leben; sie waren nie abgehobene philosophische Denker. Zu den wichtigsten Politikern und Machthabern, die sich selbst als Stoiker verstanden, gehören z.B. der römische Senator Cato der Jüngere, der im 1. Jahrhundert v. Chr. in der Römischen Republik wichtige Ämter besetzte, sowie Kaiser Mark Aurel, der im 2. Jahrhundert n. Chr. das Römische Reich regierte. Es wäre also ein Missverständnis zu meinen, die stoische Ethik empfehle die gleichmütige Akzeptanz aller politischen Verhältnisse und Ereignisse. Den Stoikern ging es von Anfang an darum, die für sie bestmögliche Gesellschaft aufzubauen. Die Stoa hat dazu einen klaren moralischen Auftrag. Das höchste Ziel ist Tugendhaftigkeit und moralische Integrität. Stoizismus ist insofern immer auch eine Philosophie des sozialen Engagements gewesen. Denn es ist nicht tugendhaft, Ungerechtigkeiten oder unmoralischem Verhalten untätig zuzusehen. Daher besteht nur eine scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen der Konzentration auf die eigenen Gedanken und der sozialen Dimension des Stoizismus. Für politisch aktive Stoiker wie Cato oder Mark Aurel waren die Lehren der Stoa nie Selbstzweck, sondern Anleitung zum Handeln und Richtschnur für ihr gesellschaftspolitisches Engagement.

Missverständnis: Stoiker wollen immer die Kontrolle haben

Richtig ist: Die Stoa propagiert ein rein rationales, an den Gegebenheiten orientiertes Verhalten: Sei immer Herr Deiner Entscheidungen; lass nicht Wut, Ängste oder Triebe über Dein Leben bestimmen! Der Stoiker wirkt in seinen Reaktionen daher stets kontrolliert. Und in seinen abgewogenen Überlegungen und Planungen ist er darauf bedacht, die Kontrolle zu behalten.

Aber: Dies bedeutet keinen Kontrollzwang. Der moderne Stoiker ist kein Kontrolletti. Um das Ziel der Gemütsruhe zu erreichen, ist zwar oft eine genaue Planung und strikte Selbstorganisation hilfreich, jedoch kann es durchaus zur Seelenruhe beitragen, die Kontrolle auch einmal abzugeben. Dies sollte gerade dem Stoiker gelingen, denn er ist sich immer bewusst, wie wenig Kontrolle wir letztlich über unser Leben haben. Die Stoa vermittelt als eine ihrer Hauptbotschaften die Erkenntnis darüber, was wir alles nicht kontrollieren können – und empfiehlt als Konsequenz, sich mit Unkontrollierbarem auch nicht übermäßig zu beschäftigen.

Missverständnis: Stoiker neigen zu Pessimismus.

Richtig ist: Epiktet rät seinen Stoiker-Schülern: „Wir müssen aus den Dingen, die in unserer Macht stehen, das Beste machen, und alles andere so nehmen, wie es ist.“ Besonders die stoische Einstellung, Dinge, die nicht der eigenen Kontrolle unterliegen, einfach widerstandslos hinzunehmen, wirkt oft pessimistisch oder gar defätistisch. Dieser Eindruck mag durch die dem Stoiker empfohlene tägliche geistige Übung der „negativen Visualisierung“ bestärkt werden. In diese Übung soll man sich stets das Schlimmste ausmalen, was passieren kann.

Aber: Das Wissen der Stoiker, dass das meiste im Leben nicht unter unserer Kontrolle steht und uns das Liebste jederzeit entrissen werden kann, ist kein Vorwand, um in Fatalismus und Ohnmachtsgefühle zu verfallen, und kein Plädoyer für eine defätistische Haltung. Zwar ist der Stoiker kein unverbesserlicher Optimist; denn er nimmt nicht an, dass selbstverständlich alles gut gehen wird. Aber er ist auch kein Pessimist. Vielmehr steht für ihn alles unter dem Vorbehalt: „Wenn das Schicksal es zulässt.“ Mit diesem allgegenwärtigen Vorbehalt ist der Stoiker immer darin bemüht, so achtsam wie möglich zu sein auf das, was wir haben, und es richtig zu würdigen – denn es könnte bald vorbei sein.

„Ich Unglückseliger, sagt jemand, dass mir dieses oder jenes widerfahren musste! Nicht doch! Sprich vielmehr: Wie glücklich bin ich, dass ich trotz dieses Schicksals, kummerlos bleibe, weder von der Gegenwart gebeugt noch von der Zukunft geängstigt! (Mark Aurel)

Missverständnis: Stoiker sind überwiegend alte weiße Männer.

Richtig ist: Betrachtet man heute die historischen Abbilder der bekannten hellenistischen und römischen Stoiker, drängt sich der Eindruck auf, dass die Stoiker ein Club alter weißer Männer waren – und es vielleicht noch sind. Woher kommt der Eindruck? Natürlich war die antike Welt männlich dominiert, aber darüber hinaus scheint der Stoizismus doch auch deutlich mehr die als männlich geltende Rationalität als die weibliche geltende Gefühlswelt anzusprechen.

Aber: In der heutigen Zeit sind die am Stoizismus interessierten Menschen eine bunt gemischte Gruppe, die sich statistisch nicht klar zuordnen lässt. Das liegt allerdings auch daran, dass es kaum statistische Daten über „Stoiker“ gibt. Einen interessanten Anhaltspunkt bietet jedoch eine Statistik zu den Teilnehmenden der „StoicWeek“, einem jährliches Event, bei dem jede/r eingeladen ist, eine Woche lang „wie ein Stoiker zu leben“. Die Ergebnisse 2018 aus über 3.500 Befragten zeigen:

  • Geschlecht: Männer waren 2018 unter den Teilnehmenden deutlich häufiger vertreten als Frauen (fast 2/3). Aber: Die Frauenquote ist in den letzten Jahren kontinuierlich leicht gestiegen.
  • Region: Die meisten Teilnehmenden kamen aus den USA (37%) und England (22%). Aber: Die Teilnehmenden kamen überall aus der Welt – aus Europa, Süd-Amerika, Canada, Australien, Afrika und Asien (immerhin 4% auch aus Deutschland). Stoiker sind ohnehin eher kosmopolitisch ausgerichtet.
  • Alter: Unter den Teilnehmenden war die Gruppe der unter 18-jährigen zwar die kleinste (1%) und die Gruppe der über 55-jährigen die größte (21%). Aber: Alle Altersgruppen waren vertreten. Die Gruppe der Teilnehmenden unter 35 machte immerhin 37% aus. Zwischen 35 und 55 Jahre alt waren 42% der Teilnehmenden.

Merke: Stoiker sind Menschen wie du und ich!