„Sei wie ein Fels, an dem sich beständig die Wellen brechen. Er steht fest und dämpft die Wut der ihn umbrausenden Wogen.“ (Mark Aurel)

Übungs-Raum

Übungs-Techniken der Stoa

In der Schule der Stoa geht es nicht darum, möglichst fleißig zu lernen, sondern um regelmäßiges Üben – oder besser gesagt: um das Ausprobieren. Ziel der Stoa ist es daher auch nicht, Sie von der Richtigkeit von „Glaubenssätzen“ oder von der „Wahrheit“ des Stoizismus zu überzeugen, sondern Sie zu ermutigen, für sich selbst auszuprobieren, wie sich der Stoizismus in Ihren Alltag überführen lässt.

Um eine stoische Haltung zum Leben zur täglichen Praxis werden zu lassen, müssen die Erkenntnisse immer wieder eingeübt werden. Idealerweise sollten die Übungen zum selbstverständlichen Bestandteile des Lebensalltags werden, so wie es für manche die morgendliche Dusche oder das Joggen nach dem Büro ist. Solche regelmäßigen Übungen, wie sie im Folgenden beschrieben werden, sind auch ohne professionelle Anleitung oder Supervision möglich. Also los: Versuchen Sie einmal selbst herauszufinden, wie stoische Praktiken Ihnen dabei helfen können, ein besseres Leben zu leben.

Morgen-Meditation

Nach der Erfahrung vieler Stoiker eignet sich besonders eine reservierte Zeit am Morgen, um sich innerlich auf den Tag einzustellen. Beispielsweise spricht Mark Aurel davon, zum Tagesanbruch an einen ruhigen Platz zu gehen und über die Sterne und den Weg der Sonne am Firmament zu meditieren, um so die richtige Einstellung für den Tag zu finden.

Diese „Morgen-Meditation“ kann ganz informell ablaufen. Suchen Sie eine für Ihre Morgenroutine passende Zeit und einen Ihnen angenehmen stillen Ort. Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit (5-10 Minuten genügen) und betrachten Sie die Schlüsselereignisse oder spezielle Herausforderungen, die Ihnen heute begegnen können. Stellen Sie sich vor, wie Sie es heute bei Ihren Aktivitäten anstellen können, zu der Person zu werden, die Sie sein möchten. Akzeptieren Sie auch, dass es im Verlauf des Tages einige Dinge geben wird, auf die Sie keinen Einfluss haben. Seien Sie ganz bei sich. Und machen Sie sich noch einmal klar: „Dies ist mein Tag!“ (carpe diem).

 „Heiße mit jedem Sonnenaufgang den neuen Tag willkommen, als wäre es der beste von allen und mach ihn dir ganz zu eigen. Wir müssen das Flüchtige ergreifen.“ (Seneca)

Abend-Meditation

Von Epiktet und Seneca wird eine Form der philosophischen Selbstanalyse beschrieben, die regelmäßig jeden Abend von Stoikern praktiziert wurde.

 „Auch sollst du nicht mit müden Augen zu Bett gehen, bevor du nicht sorgfältig nachgeprüft hast, was du am Tag getan hast. Habe ich unrecht gehandelt? Was habe ich mit Liebe vollbracht? Was habe ich unterlassen? Von der ersten bis zur letzten – prüfe deine Handlungen und korrigiere die kläglichen Taten und erfreue dich deiner guten.“ (Epiktet)

Tatsächlich ist es für die Entwicklung einer stoischen Haltung hilfreich, sich regelmäßig abends auf die wichtigsten Geschehnisse des Tages zu konzentrieren und aus der Distanz in der Rückschau noch einmal zu reflektieren und leidenschaftslos zu kommentieren, was geschehen ist und was daraus zu lernen ist.

Ort und Zeit der „Abend-Meditation“ ist wieder ganz Ihnen überlassen. Führen Sie sich – bevor Sie schlafen gehen – die Ereignisse Ihres Tages möglichst bildlich vor Augen. Wie bei der Morgen-Meditation genügen 5-10 Minuten. Viele Menschen finden es überraschend hilfreich, sich einmal täglich kurz die Zeit zu nehmen, um intensiv darüber nachzudenken, ob sie im Einklang mit ihren Werten gelebt haben und die Person gewesen sind, die sie gerne sein wollen – auch wenn es nur wenige Minuten des Nachdenkens einnimmt. Dabei bleibt ganz Ihnen überlassen, ob Sie sich zu Ihren Reflektionen und Selbstanalysen Notizen machen wollen.

Für die „Meditation“ gibt es keine inhaltlichen Vorgaben. Sie können sich aber auch drei einfache Fragen stellen, die Donald Robertson so formuliert:

  • Was habe ich schlecht gemacht? (Haben Sie sich von irgendwelchen irrationalen Ängsten oder ungesunden Begierden leiten lassen? Haben Sie schlecht gehandelt oder sich irrationalen Gedanken hingegeben?)
  • Was habe ich gut gemacht? (Haben Sie Fortschritte gemacht, indem Sie weise gehandelt haben? Loben Sie sich und stärken Sie, was Sie wiederholen wollen!)
  • Was könnte ich anders machen? (Haben Sie eine Chance versäumt, Tugend oder Charakterstärke zu beweisen? Was hätten Sie besser machen können?)

Er gibt dazu folgende Anleitung: „Kritisiere lieber spezielle Aktionen, als deine Person als Ganzes, und fokussiere dich auf Möglichkeiten wie du dich verbessern kannst. Deine Reflektionen sollten nicht in nutzlosem Grübeln enden. Wenn du dir vor Augen führst, dass du die Vergangenheit nicht mehr ändern kannst, dann kannst du anfangen, deine eigenen Fehler zu akzeptieren und dir selbst zu vergeben, während du planst, in der Zukunft anders zu handeln.“

Donald Robertson empfiehlt auch, die Morgen- und Abend-Meditation zu einem „Lernkreislauf“ zu verbinden: „Wenn ich Menschen zeige, wie sie stoische Praktiken anwenden können, ist es hilfreich, ein einfaches Rahmenkonzept für die täglichen stoischen Übungen zu haben. Dazu gehört ein „Lernkreislauf“ mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende, der sich jeden Tag wiederholt: Morgens bereiten Sie sich auf den bevorstehenden Tag vor, im Laufe des Tages versuchen Sie, stets im Einklang mit Ihren Werten zu leben, und abends überprüfen sie Ihre Fortschritte und bereiten sich darauf vor, den Zyklus am nächsten Tag zu wiederholen.“

Tagebuch

Um die stoischen Übungen sinnvoll durchzuführen, muss man nicht unbedingt Tagebuch schreiben, aber es kann hilfreich sein. (Immerhin: Ohne das Tagebuch des Philosophenkaisers Mark Aurel gäbe es seine „Selbstbetrachtungen“ nicht.) Ein (Selbstbeobachtungs-) Tagebuch kann sehr unterschiedlich sein. Beispielsweise hat Epiktet seinen Schülern geraten, eine Strichliste für die Tage zu führen, an denen sie sich nicht von ihrer Wut haben leiten lassen. Insofern kann ein Tagebuch auch sehr kurz ausfallen. Es geht vor allem darum, mit Hilfe des Tagebuchs – in dem man über sich selbst schreibt – innezuhalten, einen Schritt zurück zu treten und – wie Therapeuten sagen – „psychische Distanz“ zu seinen anfänglich aufregenden Gedanken und Gefühlen zu erzeugen. Insofern kann ein Tagebuch ein nützliches Hilfsmittel sein, das Sie zumindest erwägen sollten.