„Gib den äußeren Umständen nicht die Macht, deinen Ärger zu provozieren, denn ihnen ist es völlig egal.“ (Mark Aurel)

LERN-RAUM

Grundprinzipien der Stoa
Zwei Unterscheidungen gehören für die Stoiker zu den elementarsten Erkenntnissen ihrer philosophischen Lehre.
Unterscheide zwischen den Dingen in deinem Einflussbereich und außerhalb

Eine zentrale Botschaft der Stoa liegt in der Unterscheidung zwischen dem, was für uns beherrschbar bzw. kontrollierbar ist, und dem, was wir eben nicht kontrollieren können. Ziel ist es, unsere Bemühungen auf Ersteres konzentrieren, statt sie auf Letzteres zu verschwenden. Diese Unterscheidung war vor allem in der Lehre Epiktets immer ein entscheidender Punkt.

 „Einige Dinge stehen in unserer Macht, andere nicht. Wir beherrschen unser Denken, unsere Entscheidungen, unsere Wünsche und Abneigungen, kurzum, alles, was sich aus uns selbst heraus entwickelt. Wir beherrschen nicht unsere Körper, unseren Besitz, unser Ansehen und unsere Stellung, kurzum, alles, was sich nicht aus uns entwickelt.“ (Epiktet)

„Die wesentliche Aufgabe im Leben besteht darin, die Dinge zu erkennen und voneinander zu unterscheiden, um mir klar machen zu können, über welche äußeren Umstände ich keine Macht habe, und welche von Entscheidungen abhängen, die in meiner Macht stehen. Wo finde ich dann das Gute oder Böse? Nicht in den Dingen, die nicht in meiner Macht stehen, sondern in mir selbst, in den Entscheidungen, die ich treffe. (Epiktet)

Zunächst wird hierdurch eine zentrale Grunderkenntnis in der stoischen Lehre wiederholt: Für ein erfülltes Leben kommt es allein auf unsere innere Einstellung an. Denn während alles Äußere um uns herum unsicher und letztlich unkontrollierbar ist, können wir uns auf unser geistiges Vermögen verlassen, und die Art, wie wir auf die äußerlichen Dinge schauen, kontrollieren.

 „Es geht nicht darum, was dir im Leben passiert, sondern wie du darauf reagierst.“ (Epiktet)

„Du hast Macht über deinen Geist, nicht über Geschehnisse außerhalb dessen. Erkenne das, und du wirst Stärke finden.“ (Mark Aurel)

Noch wichtiger ist vielleicht der Umkehrschluss – nämlich dass wir nicht zu viel Kraft und Mühen auf die vielen Dinge im Lebenverschwenden sollten, auf die wir keinen Einfluss haben. Dies ist sicher ein guter Rat, da die meisten Menschen dazu neigen, sich gerade über solche Dinge Sorgen zu machen, die sie nicht beherrschen können. Wie oft erleben wir es, dass Menschen über „verschüttete Milch“ klagen. Oder dass sie sich in Sorge über eine unbestimmte Zukunft quälen.

„Wir müssen aus den Dingen, die in unserer Macht stehen, das Beste machen, und alles andere so nehmen, wie es ist.“ (Epiktet)

Schließlich geht es auch darum, Abhängigkeiten zu erkennen. Zu oft glauben wir, in unserem Leben hätten wir alles unter Kontrolle. Aber wir unterliegen zahllosen kleinen Abhängigkeiten – angefangen bei Schokolade oder Zigaretten bis hin zu Klatschnachrichten oder E-Mails. Wir müssen uns dieser Abhängigkeiten bewusst werden, um Kontrolle wiedergewinnen zu können. Im Ergebnis ist wichtig: immer Herr der Umstände seines Lebens zu bleiben.

Bei der stoischen Unterscheidungslehre zwischen den Dingen in unserem Einflussbereich und außerhalb ist die Grenzlinie leider oft nicht klar zu erkennen. Wir müssen immer wieder neu einschätzen, was wir selbst in der Hand haben und was außerhalb unserer Möglichkeiten liegt. Die stoische Lehre gibt insofern nur einen Orientierungsrahmen für unsere Entscheidungen. Dies wird auch treffend in dem bekannten Gebet beschrieben, das dem amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr zugerechnet wird:

 „Gott, gib mir die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, den Unterschied zu erkennen.“

Wo jedoch die Grenzliniekonkret verläuft,kann in jedem Einzelfall anders sein und muss immer wieder neu ausgelotet werden – beispielsweise im Fall einer Erkrankung: Wenn ein Stoiker krank wird, ruft er einen Arzt und lässt sich behandeln, da es in seiner Macht steht (es hängt von ihm ab), einen Arzt zu rufen und sich behandeln zu lassen, und da Gesundheit körperlichen Beschwerden vorzuziehen ist. Wenn die Krankheit sich dagegen als unheilbar herausstellt, nimmt er es hin und lebt gelassen seine letzten Tage. Ein anderes Beispiel: Wenn ein Stoiker eine Reise plant, bereitet er sich sorgfältig vor, bucht einen Zug und ein Hotelzimmer. Dabei plant er auch genügend Zeit für das Erreichen des Zugs oder ein Umsteigen ein und wird sich rechtzeitig auf den Weg machen (denn dies liegt in seiner Macht). Sollten dann während der Fahrt jedoch ungeplante Zwischenfälle eintreten – ein Triebwerksschaden oder ein Unwetter – die die Reise verzögen, wird er dies gelassen hinnehmen (denn er hat hierauf keinen Einfluss).

In den meisten Fällen des Lebens bleibt die Grenzlinie zwischen dem, was noch beeinflussbar ist, und dem, was nicht mehr änderbar ist, unklar. Die stoische Lebensphilosophie kann in diesen Fällen nur den Rat geben, die Situation so gewissenhaft und vernünftig wie möglich zu analysieren. Wenn wir dann alles getan haben, was in unserer Macht steht, um die Grenzlinie zu erkennen, können wir uns in stoischer Gelassenheit üben. Am Ende ist die stoische „Unterscheidungslehre“ jedoch weniger eine praktische Handlungsanleitung als eine beständige Mahnung, dass das Leben oft nicht wie geplant oder wie vorherzusehen verläuft.

Der Stoiker ermahnt sich zu akzeptieren, dass seine Handlungen und sein Leben Teil von etwas Größerem sind, von dem er nur ganz wenig kontrollieren kann. Das bedeutet nicht, dass man sich passiv den Ereignissen seines Lebens unterwirft. Gelassenheit kommt vom Akzeptieren der Realität und der Fakten und – gleichzeitig – dem Weitermachen und Nichtaufgeben. Allerdings ist es eine gute stoische Übung, all unsere Pläne und Wünsche immer unter dem Vorbehalt zu formulieren „Wenn das Schicksal es zulässt“. Damit machen wir uns klar, dass viele Dinge nicht in unserer Macht stehen.

Unterscheide zwischen dem tatsächlichen Geschehen und deiner Bewertung

Eine weitere Unterscheidung ist fundamental in der stoischen Lehre: Die Stoiker raten, unsere Bewertung von dem eigentlichen Geschehen zu trennen.

 „Es sind nicht die Ereignisse, die Menschen beunruhigen, sondern deren Beurteilungen.“ (Epiktet)

Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass wir zumeist nicht auf Ereignisse in der äußeren Weltreagieren; wir reagieren vielmehr auf die Empfindungen in unserem eigenen Körper. Wenn die Empfindung unangenehm ist, reagieren wir mit Ablehnung; ist die Empfindung angenehm, reagieren wir mit Verlangen nach mehr.

Dazu ein Beispiel aus dem Alltag (nach Günther Holzinger): „Nehmen wir an, dass uns zu Ohren kommt, dass ein Bekannter oder eine Arbeitskollegin schlecht über uns gesprochen hat. Normalerweise neigen wir dazu, uns darüber zu ärgern, zornig darüber zu werden, vielleicht auch nach Rache zu sinnen oder den anderen ebenfalls zu verleumden. Wir neigen also dazu, die Sache zu interpretieren und zu bewerten. Zuerst erfahren wir eine Sache und in einem zweiten Schritt bewerten wir diese. Vor allem die Bewertung des Ereignisses trägt wesentlich zu unserer Beunruhigung bei.“

Den Stoikern geht es darum, dass wir bei einer aufkommenden Beunruhigung – sei es aus Zorn oder Angst – einen Schritt zurücktreten und aus der Distanz betrachten, was die Ursache unserer Beunruhigung wirklich ist. Denn dann werden wir in den meisten Fällen erkennen, dass der Auslöser – das tatsächliche Geschehen – ziemlich banal ist. Insbesondere wenn es – wie in dem Beispiel – um Gerüchte oder Hörensagen geht, bleibt bei näherer Betrachtung wenig übrig, was unseren Zorn oder überhaupt eine Reaktion wert wäre. Andere Fälle mögen schwieriger sein – wenn wir z.B. die Diagnose einer Erkrankung erhalten. Auch hier kommt meistens zu dem tatsächlichen medizinischen Krankheitsbild noch unsere subjektive „Bewertung“ in Form von Angst, Unwillen und Abwehrverhalten hinzu, die den Umgang mit der Situation erschwert. Nicht selten entstehen dann in unserer Vorstellung „Worst Case-Szenarien“, die uns emotional viel mehr belasten als es die Krankheit selbst könnte. Stoiker wollen die Situation nicht verharmlosen, wenn jemand schlecht über uns spricht oder wir eine beunruhigende Diagnose erhalten; sie möchten uns vielmehr motivieren, eine Grenzlinie auszuloten: Was ist tatsächlich belegbar objektives Geschehen – und wo beginnt meine Interpretation und mein Werturteil über das Geschehen, was ist vielleicht sogar reine Vorstellung, die gar nicht mehr mit der Realität übereinstimmt?

Wahrscheinlich haben Sie dies schön öfters erlebt: Nach einem Streit zwischen zwei Personen berichtet Ihnen jede der beiden beteiligten Personen getrennt von den Ursachen und dem Verlauf des Streits. Es ist immer wieder verblüffend, wie sehr sich die beiden Darstellungen desselben Vorkommnisses unterscheiden. Denn die subjektiven Vorstellungen der beiden Kontrahenten gehen so weit auseinander, dass man als Zuhörer meint, es wären zwei verschiedene Geschehen. In diesem Fall muss man sorgfältig sezieren, was tatsächliches Geschehnis und was persönliche Bewertung ist. Dies fällt bei der Betrachtung eines Streits dritter Personen schon schwer – umso schwerer fällt die Unterscheidung, wenn wir selbst betroffen und unmittelbar involviert sind. Jedoch wird der Stoiker immer versuchen, diese wichtige Unterscheidung zu treffen.