„Gib den äußeren Umständen nicht die Macht, deinen Ärger zu provozieren, denn ihnen ist es völlig egal.“ (Mark Aurel)

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Grundlagen der Stoa

Die Lehre der Stoa ist komplex und vielschichtig. Ihr Lehrgebäude lässt sich jedoch – vereinfacht – durch folgendes Bild veranschaulichen:

Das Fundament: Die Basis bzw. die Grundlage der stoischen Haltung bildet der Gemütszustand einer inneren Ruhe und Ausgeglichenheit, den ein Stoiker möglichst permanent etablieren sollte. Diese Seelenruhe kann immer wieder durch spontane emotionale Reaktionen unterbrochen werden, sollte dann aber möglichst bald wieder erreicht werden. Dadurch wird verhindert, dass Affekte wie Zorn oder Angst die Entscheidungen (mit-) bestimmen. Sinnvoll ergänzt wird die Gemütsruhe durch die „Stoische Achtsamkeit“, einen Zustand der permanenten Wachheit und Konzentration auf das Hier und Jetzt, der es dem Stoiker ermöglicht, seine Emotionen und sein Handeln bewusst wahrzunehmen und ggf. zu hinterfragen. Beide Zustände sorgen dafür, dass der Stoiker gemäß seinen Werten leben und sein inneres Potenzial voll entfalten kann.

 Die Stützpfeiler: Auf der Grundlage des Gemütszustands von Ruhe und Achtsamkeit kann der Stoiker ein Leben voll innerer Zufriedenheit erreichen, wenn er vernunftgemäß und tugendhaft handelt.

  • Vernunft: Für Stoiker ist es essentiell, sich bei allen wichtigen Entscheidungen des Lebens allein von Logik und Vernunft leiten zu lassen, weshalb Ausgangspunkt jeder Entscheidung immer eine rationale, möglichst leidenschaftslose Analyse der Situation ist.
  • Charakter: Nach Ansicht der Stoiker haben wir alle von Natur aus einen tugendhaften Charakter. Das heißt: Es liegt an uns selbst, ob wir fair, mutig, besonnen und weise sind. Wir müssen nur gewillt sein, dieses Potenzial in uns selbst zu entdecken. Und wenn es gelingt, durch stoische Übungen unser Potenzial weiter zu entwickeln, können wir schließlich zu der Person werden, die wir sein wollen.
  • Engagement: Auch wenn die Basis der stoischen Haltung innere Ruhe und Ausgeglichenheit ist, ist doch das Ziel aller stoischen Übungen letztlich das richtige Handeln. Die Stoa bietet insofern Anleitung für ein Leben und Handeln im Einklang mit der Vernunft und dem eigenen Wertesystem.

 Der Abschluss: Der krönende Abschluss des Gebäudes ist ein glückliches, erfülltes Leben voll innerer Zufriedenheit. Diese Zufriedenheit (Eudaimonia) ist etwas, was man nur in sich selbst findet, und was daraus entsteht, dass man sein eigenes Potenzial ausschöpft und im Einklang mit seinen Kernwerten lebt.

Die Ausrichtung der Stoa auf das Lebensglück

Die Philosophie der Stoa befasst sich in ihrer Grundausrichtung mit dem Leben – und insbesondere mit dem Lebensglück. Dreh- und Angelpunkt ist immer wieder die Frage: „Wie gelingt uns ein glückliches Leben?“ Die Antwort der Stoiker liegt in dem zentralen Begriff der Eudaimonia (εὐδαιμονία).

Eudaimonia wird häufig schlicht mit „Glück“ übersetzt. Denn ein „glückliches Leben“ erscheint uns heute ganz überwiegend als ein lohnendes Ziel. Aber was bedeutet „Glück“? Ist es das Glücksgefühl nach einem Sechsergewinn im Lotto, der uns zufällig und unverdient zufällt und uns spontan jubeln lässt? Oder ist es das entscheidende Tor in einem Fußballfinale, das eine ungehemmte euphorische Stimmung erzeugt? Es lohnt sich, kurz darüber nachzudenken, welche Momente unseres Lebens wir als die glücklichsten in Erinnerung haben. Oft sind es Ereignisse wie Heirat, Geburt, vielleicht ein gelungener Familienausflug oder ein stimmungsvolles Abendessen, evtl. auch ein Abenteuer-Urlaub …. Die Glücksgefühle, die uns dabei ins Gedächtnis kommen, sind meist kurzlebig, unverhofft entstanden und bald wieder vergangen. Man soll sie genießen – insofern sind die Stoiker keine Spielverderber – aber sie führen nicht zu dem, was die Stoa „Eudaimonia“ nennt. Denn damit ist nicht ein Leben voller überschwänglicher Gefühle gemeint, wie es das deutsche Wort „glücklich“ nahelegt. Der Stoiker meint mit Eudaimonia vielmehr ein Gefühl tiefer Zufriedenheit bzw. Erfüllung. Dieses Gefühl erlebt, wer mit sich selbst im Reinen ist. Es kommt nicht von außen, sondern von innen. Das heißt: Eudaimonia ist etwas, was man nur in sich selbst findet. Es ist eine innere Befriedigung, die daraus entsteht, dass man sein eigenes Potenzial ausschöpft und im Einklang mit seinen Kernwerten lebt. Nur dadurch kann sich ein tiefgehendes dauerhaftes Gefühl der Erfüllung einstellen. Und nur dadurch haben wir die Chance, der Mensch zu werden, der wir sein wollen.

Die Vernunft der Stoiker

Beim Stoizismus geht es nicht um das Gute oder das Richtige, sondern darum, immer das von der Vernunft Angeratene zu tun. Das stoische Handeln richtet sich dementsprechend auch nicht an Absolutheitsansprüchen aus, sondern an den Gegebenheiten. Der Stoizismus bietet dem Stoiker einen Leitfaden für sein Verhalten und sein ganzes Wesen, der auf Vernunft basiert, nicht auf Glauben. Dies erfordert eine rationale Analyse der jeweiligen Gegebenheiten und ein rein vernunftgesteuertes Handeln. Dazu muss der Stoiker in sich hineinschauen und sich genau prüfen, bevor er seine eigenen Entscheidungen trifft – unbefangen und unbeeinflusst von allgemeinen Auffassungen.

„Dies sind die Wesensmerkmale einer vernunftgesteuerten Seele: Selbstwahrnehmung, Selbstprüfung und selbstbestimmtes Handeln. Sie werden reiche Früchte tragen. … Und alle selbstgesteckten Ziele übertreffen. (Mark Aurel)

Mit Blick auf das Ziel der Eudaimonia, einer gelungenen Lebensführung, geht es darum, was ich mir in der gegebenen Situation gebiete, um derjenige werden zu können, der ich sein möchte. Die Stoa begründet einen entschlossenen Rationalismus, der das Individuum als vernünftiges oder doch wenigstens vernunftfähiges Wesen niemals aus der Pflicht entlässt, das Vernünftige zu tun. (Pflicht ist insoweit ein wesentliches Stichwort für die stoische Lebenspraxis.)

Zwar kann nicht jedes Problem mit Vernunft gelöst werden. Aber nur die Logik und Vernunft eröffnen eine Möglichkeit, mit der Problemlage richtig umzugehen – selbst wenn die Vernunft am Ende zu dem Schluss kommt, dass alle Anstrengung nichts fruchtet. Denn es liegt in unserer inneren Natur, vernunftgemäß zu denken und zu handeln. Zumindest haben wir von Natur aus die Fähigkeit dazu.

„Der Mensch, der in allen Dingen seiner Vernunft folgt, wird die nötige Muße haben und die Bereitschaft zu handeln – er ist zugleich heiter und gelassen.“ (Mark Aurel)

Ein tugendhafter Charakter

Für die Stoiker ist das wichtigste im Leben und letztlich das einzige, was zählt: ein tugendhafter Charakter. Der Begriff Tugend wirkt heute auf uns eher antiquiert und wird durch (veraltete) christliche Tugend­vorstellungen (von Keuschheit und Reinheit bar jeder Sünde) bestimmt. Von diesen Vorstellungen müssen wir uns für das Verständnis der Stoa von Tugend lösen. Die Stoa meint mit Tugend (areté) etwas, was mehr mit einer charakterlichen Tauglichkeit der Person als mit überkommenen Moralvorstellungen zu tun hat. Tugend im stoischen Sinne grenzt sich aber auch deutlich von anderen antiken Vorstellungen ab – vor allem von einem „kompetitiven“ Tugendverständnis, das sich u.a. in den homerischen Epen findet, in denen sich ein vorzüglicher Mensch dadurch auszeichnet, besonders durchsetzungsstark, leistungsfähig und einflussreich zu sein, bei sportlichen Wettkämpfen zu gewinnen, ein Heer zum Sieg zu führen oder sich als Machthaber zu etablieren. Die Stoiker hielten dagegen eher kooperative und soziale Qualitäten für erstrebenswerte Charaktereigenschaften. Dieses Tugendverständnis gewann mit Ausbildung der demokratischen Gesellschaftsformen noch weiter an Einfluss. Zum näheren Verständnis eines tugendhaften Charakters lassen sich vier Kardinaltugenden unterscheiden (deren Begriffe einer modernen Interpretation bedürfen, die sehr gut nachvollziehbar in Holzingers „Handbüchlein zur Philosophie der Stoa“ gegeben wird):

  • Gerechtigkeit (dikaiosyne) könnte man heute besser mit Fairness übersetzen. Es ist die Fähigkeit, mit anderen gut umgehen zu können, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, sich ihnen (unabhängig von ihrem Status und Ansehen) freundlich zuzuwenden und sie anständig zu behandeln.
  • Mut (andreia) meint heute so etwas wie (Zivil-) Courage. Es ist der Mut, das Richtige zu tun, auch (und gerade) wenn man dafür sogar die eigenen Vorurteile in Frage stellen und über den eigenen Schatten springen muss.
  • Selbstbeherrschung (enkrateia) und vor allem Besonnenheit (sophrosyne) sind weitere wichtige charakterliche Fähigkeiten für einen Stoiker, um – auch in schwierigen Situationen – eine vernünftige Entscheidung treffen zu können.
  • Weisheit (phronesis) meint im antiken Verständnis nicht so sehr eine wissensbasierte, sondern eine angewandte, praktische Weisheit, d.h. eine durch Erfahrung gewonnene Lebensklugheit. Sie zeigt sich in einer Abgeklärtheit im Sinne einer inneren Reife, die zugleich auch alle anderen Tugenden umfasst.

Wer einen tugendhaften Charakter ausbildet, lebt im Einklang mit seiner eigenen Natur als vernunftbegabtes Wesen, aber auch in Harmonie mit der Menschheit und in Übereinstimmung mit der Natur als Ganzes. Denn nach Ansicht der Stoiker haben wir alle bereits von Natur aus das Vermögen, fair, mutig, besonnen und abgeklärt zu sein. Tugendhaft zu sein bedeutet daher, sich ernsthaft zu bemühen, dieses Potenzial in uns selbst zu entdecken und zum Vorschein zu bringen. Dies kann insbesondere durch regelmäßige stoische Übungen gelingen, durch die wir unser Potenzial allmählich weiterentwickeln und schließlich zu der Person werden können, die wir sein wollen.

 „Du bist nicht dein Körper und deine Frisur, sondern die Fähigkeit, richtig zu entscheiden. Wenn deine Entscheidungen schön sind, wirst du es auch sein.“ (Epiktet)

Tugendhaftes Handeln in Einklang mit den eigenen inneren Werten ist das einzige, was uns Zufriedenheit und Erfüllung im Leben bringt. Dagegen können ein guter Job, Geld, Erfolg und Ruhm kein Glück garantieren. Sie können Teile eines glücklichen Lebens sein, aber für sich alleine niemals Erfüllung bieten. Ein gelungenes Leben hängt also im Endeffekt an der eigenen charakterlichen Entwicklung (d.h. an inneren Werten) und weniger an der Anhäufung von materiellem Besitz (d.h. an externen Werten, die niemals vollständig unserer Kontrolle unterliegen).

 „Vertraue nicht auf deinen Ruf, auf dein Geld oder deine Stellung, sondern auf deine innere Stärke: deine Einschätzung dessen, was unter deiner Kontrolle steht und was nicht. Denn das allein macht uns unabhängig und frei, es zieht uns beim Schopf aus den Tiefen empor bis auf Augenhöhe mit den Reichen und Mächtigen.“ (Epiktet)

Stoisches Engagement

Tugendhaftigkeit ist nicht nur eine Frage des Charakters, sondern auch eine Frage der Einstellungen und der Handlungen gegenüber anderen Menschen. Sie hat also nicht nur eine innere, sondern auch eine soziale Dimension. Die Stoiker glauben, dass wir von Natur aus einen sozialen Charakter haben, dass sich Menschen von Natur aus umeinander kümmern und sich in ihrer Gemeinschaft engagieren. Wir werden mit dem instinktiven Wunsch geboren, anderen zu nutzen und dies in sozialem Engagement zu zeigen.

Den Stoikern ging es dementsprechend immer darum, die für sie bestmögliche Gesellschaft aufzubauen. Stoizismus ist insofern immer auch eine Philosophie des sozialen Engagements gewesen. Daher besteht nur eine scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen der Konzentration der Stoiker auf ihre eigenen Gedanken und der sozialen Dimension des Stoizismus. Für politisch aktive Stoiker wie Cato, Seneca oder Mark Aurel waren die Lehren der Stoa nie Selbstzweck, sondern Anleitung zum Handeln und Richtschnur für ihr gesellschaftspolitisches Engagement. Insbesondere Mark Aurel bezieht sich (wie andere Stoiker) oft auf die „Brüderschaft der Menschheit“ bzw. die „Brüderschaft der Welt“ und die Idee, dass wir alle Teil eines größeren menschlichen, rationalen und sozialen Organismus sind.

„Denn wir sind zur gemeinschaftlichen Wirksamkeit geschaffen, wie die Füße, die Hände, die Augenlider, wie die obere und untere Kinnlade. Darum ist die Feindschaft der Menschen untereinander wider die Natur.“ (Mark Aurel)