„Gib den äußeren Umständen nicht die Macht, deinen Ärger zu provozieren, denn ihnen ist es völlig egal.“ (Mark Aurel)

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Grundhaltungen der Stoiker

Um die Philosophie der Stoa zu leben, genügt es nicht, ihre Prinzipien zu kennen; man muss sich ihre Haltung zu Eigen machen. Die Grundhaltung der Stoiker ist zunächst von (Seelen-) Ruhe geprägt. Jedoch hat die „Stoische Ruhe“ verschiedene Facetten, die durch drei Begriffe zum Ausdruck gebracht wird, die sich überschneiden und zusammenhängen: Ataraxia, Apatheia und Autarkeia. Die „Stoische Ruhe“ wird außerdem durch die „Prosoché (προσοχή), eine Art stoische Achtsamkeit, ergänzt. Seelenruhe und Achtsamkeit sind keine gegensätzlichen, sondern komplementäre Gemütszustände. Sie werden nicht nur in bestimmten Lebenssituationen angestrebt, sondern sollen als eine beständige (Grund-) Haltung etabliert werden, die der Stoiker permanent einnimmt und im Lebensalltag immer wieder einübt.
Ataraxia – Unerschütterlichkeit gegenüber den Widrigkeiten des Lebens

Die Stoiker haben die Affekte (Gemütserregungen wie Zorn, Hass oder Angst) immer als eine Gefährdung ihrer Seelenruhe angesehen. Nur wer seine Affekte durch richtiges (vernünftiges) Urteilen überwindet, wird tugendhaft. Das Ziel besteht dabei allerdings nicht im Unterdrücken oder Verbergen jeglicher Emotionen.Was der moderne Stoiker anstrebt, ist eine Grundstimmung, ein Bei-sich-sein, dem die Alten die Bezeichnung „Seelenruhe“, „Gemütsruhe“ oder vielleicht sogar „Glückseligkeit“ verliehen hätten. Während die Mitglieder unserer Gesellschaft heute ständig aktiv und rastlos sind, zeigt sich der Stoiker unerschütterlich.

 „Sei wie ein Fels, an dem sich beständig die Wellen brechen. Er steht fest und dämpft die Wut der ihn umbrausenden Wogen.“ (Mark Aurel)

Ataraxia (ἀταραξία) meint also eine innere Unerschütterlichkeit gegenüber allen Widrigkeiten des Lebens. Ataraxia ist für den Stoiker Weg und Ziel gleichermaßen. Dazu müssen vor allem die Affekte unter Kontrolle gebracht werden. Denn Angst und Zorn verstellen nur allzu oft den Zugang zu vernünftigen Lösungen und beeinträchtigen zudem die Lebensqualität.

 „Gelassenheit können nur jene erreichen, die ein unerschütterliches und klares Urteilsvermögen haben – der Rest hadert ständig mit seinen Entscheidungen, schwankt hin und her zwischen Ablehnung und Akzeptanz. Woher kommt dieses Für und Wider? Es rührt daher, dass nichts klar ist und sie sich auf den unsichersten Ratgeber verlassen: die öffentliche Meinung.“ (Seneca)

Apatheia – Selbstdisziplin und maßvolle Haltung

Apatheia (ἀπάθεια) bedeutet eine Grundhaltung, die auf Selbstdisziplin und Mäßigung beruht. Der Stoiker ist kein Asket, aber er wird in allem, was er tut, Maß halten. Er kann Essen genießen, es sollte aber nicht in Völlerei ausarten. Er kann freudig arbeiten, sollte aber nicht in Arbeitswut verfallen.

„Arbeite! Aber nicht wie ein Unglücklicher oder wie einer, der bewundert oder bemitleidet werden will. Arbeite oder ruhe, wie es das Beste für die Gemeinschaft ist.“ (Mark Aurel)

Dem angehenden Stoiker wird geraten, die Dinge nicht mit zu viel Leidenschaft anzugehen, heute würde man sagen: es nicht zu übertreiben. Das Leben ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf, bei dem durch leidenschaftliche Aufwallungen nur Kräfte vergeudet werden, die bei einer gleichmäßigen maßvollen Einteilung viel weiter reichen können.

Die stoische Grundhaltung der Apatheia gibt immer wieder Anlass zu Missverständnissen. Zwar wird Epiktet der Ausspruch „Ertrage und enthalte Dich“ zugeschrieben. Dies bedeutet jedoch keine Teilnahmslosigkeit; insofern ist das deutsche Wort „Apathie“ ganz unpassend. Und auch wenn Apatheia heißt, Leidenschaft (Pathos) abzulehnen, sind Stoiker doch keine gefühllosen Roboter. Sie hören nicht einfach auf, zu fühlen oder zu begehren, sie empfinden Angst im Angesicht einer Bedrohung und Leid beim Tod eines nahestehenden Menschen. Aber die Affekte können ihrem seelischen Gleichgewicht nicht auf Dauer schaden und ihre innere Harmonie nicht nachhaltig stören.

Die Grundhaltung der Apatheia ignoriert keine Gefühle oder natürlichen Triebe, versucht aber ihre Auswirkungen auf einem maßvollen (mittleren) Level zu halten. Ein dauerhaftes seelisches Gleichgewicht wird nach Ansicht der Stoiker viel eher zu einer tief empfundenen Lebenszufriedenheit beitragen als eine ständige Achterbahnfahrt zwischen Ekstase und Enttäuschung.

Autarkeia – Selbstbestimmtes Urteilsvermögen

Die stoische Grundhaltung der Autarkie (nach dem heutigen Verständnis von Selbstständigkeit, Selbstbestimmung oder Selbstgenügsamkeit) kann – wie zuvor schon die Apatheia – leicht zu Missverständnissen führen. Denn Autarkie (αὐτάρκεια) bedeutet nicht, dass dem Stoiker die Meinungen und Ansichten anderer egal wären. Gleichgültigkeit ist nie ein Ideal der Stoiker gewesen. Im Gegenteil: Man sollte immer die Meinungen anderer einholen. Denn zu einer ausgewogenen vernünftigen Situationsanalyse, die dem Stoiker jederzeit angeraten ist, gehört auch die Berücksichtigung der Ansichten anderer, um ein realistisches Meinungsbild zu erhalten.

Allerdings sollte man nie Meinungen anderer ungeprüft übernehmen (indem man z.B. Vorurteile gegenüber Dritten verbreitet) oder sich von den Ansichten anderer abhängig machen (indem man z.B. Wohlverhalten zeigt, um Anerkennung zu erhalten). Dies klingt zunächst wie ein Gemeinplatz, wird aber – gerade in Zeiten von Social Media – schwierig, wenn in einer sozialen Gruppe Meinungen geteilt werden und ein Meinungsdruck entsteht, sich einer „herrschenden Meinung“ anzuschließen. Heute sind die meisten unserer Ansichten eher durch gemeinschaftliches Gruppendenken als durch individuelle Rationalitätt geprägt.

 „Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr wir uns selbst lieben, aber viel mehr Wert auf die Meinungen anderer statt auf unsere eigenen legen. … Wie viel mehr Glauben schenken wir den Meinungen, die andere über uns haben, und wie wenig unseren eigenen!“ (Mark Aurel)

Autarkeia bedeutet, sich dem Meinungsdruck einer Mehrheit oder einer Gruppe, der ich gefallen möchte, nicht zu beugen. Es bedeutet, nicht auf Meinungsmache – ob im Netz oder in den Medien – hereinzufallen, sondern ein eigenständiges Denken zu pflegen (orientiert an Logik und Vernunft als den Grundpfeilern der Stoa). Wir brauchen uns nicht ständig mit anderen Menschen zu vergleichen; wir müssen nicht mit jeder neuen Information ständig unsere Einschätzung verändern. Gelassenheit und innere Ruhe findet nur, wer seinen Weg erkennt und ihm treu bleibt. Autarkeia bedeutet daher vor allem auch, dass der persönlichen Integrität der höchste Stellenwert eingeräumt wird.

Das stoische Ideal der Autarkie sollte – umgekehrt – nicht dazu führen, dass man sich nur noch auf sich selbst konzentriert und sich von seiner Umwelt distanziert. Auch ein Stoiker kann und soll menschliche Beziehungen aufbauen. Jede Beziehung – ob Partnerschaft, Familie oder Freundschaft – führt naturgemäß zu Abhängigkeiten. Insofern lebt auch der Stoiker immer in einem natürlichen Spannungsverhältnis zwischen seinem sozialen Leben und der Unabhängigkeit seines eigenen Wesens. Die Stoa fordert ihn auch nur dazu auf, sich bestehende Abhängigkeiten bewusst zu machen und sich davon nicht vereinnahmen zu lassen. (Wahre Liebe und Freundschaft sollte allerdings auch nicht darauf angelegt sind, zu manipulieren oder zu vereinnahmen.)

Autarkeia verlangt nicht nur Unabhängigkeit von den Meinungen anderer, sondern ermutigt auch zur Unabhängigkeit von den eigenen (!) inneren Verkrustungen. Ein Stoiker muss immer wieder dazu bereit sein, sich selbst und die eigenen Prinzipien zu hinterfragen, sie auf ihre Sinnhaftigkeit zu prüfen und ggf. abzuändern. Ein Stoiker wird daher nie an starren Ideologien festhalten und sich von funda­mentalistischen Ansichten jeder Art freimachen. So wurden auch die Lehren der Stoa im Laufe der Jahrhunderte immer wieder hinterfragt und angepasst. Massimo Pigliucci nennt die Stoa „eine Philosophie mit offenem Ausgang“ und meint: „In einer Welt des Fundamentalismus und der starren Lehrmeinungen kann eine Weltsicht, die von Natur aus offen für Korrekturen ist, nur erfrischend sein.“ Wohl wahr!

Prosoché – Stoische Achtsamkeit

Prosoché (προσοχή) bedeutet Aufmerksamkeit oder Wachsamkeit. Im Kontext der stoischen Lehre passen aber die Begriffe Wachheit oder Achtsamkeit besser. Denn sie können besser verdeutlichen, dass damit ein permanenter Zustand, eine Grundhaltung gemeint ist. Pierre Hadot beschreibt sie so: „Die Grundhaltung des Stoikers ist diese kontinuierliche Aufmerksamkeit, eine konstante Spannung, ein Bewusstsein, eine Wachsamkeit in jedem Augenblick.“ In einfachen Worten heißt dies: immer ganz „bei der Sache sein“.

Praktischbedeutet es, dass der Stoiker versucht, sich immer auf den gegenwärtigen Augenblick zu konzentrieren. „Die Wachheit ist auf den gegenwärtigen Moment bezogen. Das bedeutet nicht, dass an die Vergangenheit oder die Zukunft nicht gedacht werden dürfte, sondern vielmehr, dass vor allem der gegenwärtige Moment im Fokus der Aufmerksamkeit steht.“ (Günther Holzinger). Diese Achtsamkeit im gegenwärtigen Moment ist eine wichtige Voraussetzung, um mit negativen Gefühlen umgehen zu lernen. Z.B. entstehen Ängste und Sorgen durch die Vorstellung von unbestimmten Ereignissen in der Zukunft. Sie können durch den Fokus auf das Hier und Jetzt und die als Nächstes anstehenden Schritte eingehegt werden. Achtsamkeit im gegenwärtigen Moment ist aber auch notwendig, um z.B. aufkommende Wut und Zorn in den Griff zu bekommen. Denn nur wenn man aufmerksam auf seine Gefühlszustände achtet, können stoische Übungen frühzeitig – möglichst schon im Entstehungsstadium aufkeimenden Zorns – angewendet werden und Wirkung zeigen. Prosoché ist also eine grundlegende Voraussetzung für die Anwendung der stoischen Lehre.

„Gebiete dem Hin-und-her-gezerrt-werden (deiner Seele) Einhalt. Umgrenze die Gegenwart. Erkenne, was dir oder einem anderen widerfährt. Unterscheide und zergliedere, was dich trifft, in seine Ursache und seinen Stoff. Denk an dein letztes Stündlein.“ (Mark Aurel)

Die Stoische Achtsamkeit hat zwei Zielrichtungen: Sie ist einerseits nach innen, d.h. auf die Selbstwahrnehmung gerichtet (vor allem auf Veränderungen in den eigenen Vorstellungen oder im Gefühlszustand) und andererseits nach außen auf das momentane Geschehen und den Umgang mit den Mitmenschen. „Dies setzt“, so Günther Holzinger, „ein gewissen Maß an kognitiver Distanz voraus. Metaphorisch könnte man sagen, dass man nicht nur wahrnimmt, dass man alles durch seine eigene Brille sieht, sondern dass man versucht, quasi von außen auf seine eigene Brille zu sehen, durch die man sieht. Dies bedarf natürlich einiger Übung.“ Jedoch sind Achtsamkeitsübungen immer lohnend und bringen den (angehenden) Stoiker in der Entwicklung einer stoischen Haltung zum Leben ein gutes Stück weiter.