Die augenöffnende Botschaft der „Schneekönigin“

Eines der schönsten und tiefgründigsten Märchen – „Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen – beginnt so: „Eines Tages war der Teufel in der köstlichsten Laune, denn er hatte einen Spiegel vollendet, der die Eigenschaft besaß, alles Gute und Schöne, das sich darin spiegelte, fast zu nichts zusammenschrumpfen zu lassen, während das, was nichts taugte und sich schlecht ausnahm, recht deutlich hervortrat und noch schlimmer wurde. Die herrlichsten Landschaften sahen darin wie gekochter Spinat aus, und die besten Menschen wurden hässlich oder standen ohne Körper auf dem Kopf.“

Der Spiegel hat also die Eigenschaft, Dinge, die eigentlich gut und schön sind, im Auge des Betrachters zu entwerten und zu verderben. Als der Spiegel in viele Splitter zerbricht, trifft einer von ihnen das Waisenkind Kay ins Herz und in die Augen. So verlässt er sein Elternhaus und seine Freundin und fährt mit der weiß bepelzten Schneekönigin in ihrer prächtigen Kutsche davon. Er verfällt ihrer kalten Schönheit und lebt in ihrem Palast fortan in einem frostigen Traum. Dort findet die treue Gerda ihn schließlich. Kay erkennt sie jedoch nicht einmal. Erst als Gerda um ihn weint, lassen ihre Tränen sein Eisherz schmelzen und die Splitter verschwinden. So können beide fliehen. Und als sie schließlich zu Hause ankommen, sind sie erwachsen geworden.

Hans Christian Andersen ist mit der „Schneekönigin“ ein tiefenpsychologisch besonders interessantes Märchen gelungen. Denn hier wird von jemandem erzählt, der eigentlich ein märchenhaft glückliches Leben führen müsste – in einem großen Schloss an der Seite einer wunderschönen Königin. Dennoch wird ihm sein Leben vergällt durch einen Splitter in seinem Herz und seinem Auge. Trotz märchenhafter Pracht empfindet er alles um sich herum als eisig und trist. „Es war gerade einer von diesen Glassplittern, die von dem Spiegel abgesprungen waren, der bewirkte, dass alles Große und Gute, das sich darin abspiegelte, klein und hässlich wurde, und jeder Fehler an einer Sache sich sofort bemerkbar machte.“ So findet er das Schöne nur noch hässlich, das Gute nur noch böse. Rosen findet er wurmig, seine Freundin Gerda verspottet er und ist auch sonst rüpelhaft gegen alle, die es gut mit ihm meinen. Erst als die Splitter aus dem Auge und dem Herz verschwinden, findet Kay sein Glück.

Das Märchen will uns keinen absonderlichen Einzelfall zeigen, sondern vor einem Geschick warnen, das auch jeden von uns treffen kann. Denn der Splitter, der verhindert, dass man das Gute und Schöne um einen herum wahrnimmt, ist weit verbreitet. Meist merken wir nicht einmal, wenn sich ein solcher Splitter in unserem Auge befindet und unser Wahrnehmungsvermögen beeinträchtigt. Überlegen wir doch einmal: Wann haben wir zuletzt das Gute und Schöne in unserem Leben nicht richtig erkannt? Wer an einem sonnigen Frühlingstag nur dem Bus zur Arbeit hinterher hetzt, wer seine Kinder nicht zu Bett bringt, weil er nur den Stapel Akten auf dem Schreibtisch sieht, oder wer eine freundliche Einladung zum Kaffee ausschlägt, weil schon der nächste Termin ansteht, sollte mal nach einem solchen Splitter Ausschau halten. Denn zu oft verpassen wir das Gute und Schöne, obwohl es direkt vor unserer Nase ist, weil wir zu sehr auf anderes fixiert sind, was angeblich wichtiger ist: Ansehen, Wohlstand, Bequemlichkeit, Sicherheit – alles was der Palast der „Schneekönigin“ zu bieten hat. Aber das wahre Lebensglück findet man dort nicht.

Die erstaunliche Botschaft des Märchens ist: Um die guten Dinge des Lebens und sein Glück zu finden, muss sich nicht die Umgebung ändern; man muss nur den Splitter herausziehen und mit anderer Perspektive auf seine Umgebung schauen. Dies ist auch der zentrale Gedanke in der Lehre der Stoa. „Denke nicht so oft an das, was dir fehlt, sondern an das, was du hast“, empfahl schon der Stoiker-Kaiser Mark Aurel. Ob jemand etwas aus seinem Leben macht, hängt nach Überzeugung der Stoiker letztlich nicht von den Umständen ab, unter denen er lebt, sondern wie er seine Lebensumstände betrachtet. Glück ist eine Frage der Perspektive. Ob wir uns glücklich oder unglücklich fühlen, hängt von unserer persönlichen Wahrnehmung der Umstände ab, nicht von den Umständen selbst. Die Stoa ermutigt uns daher immer wieder zu einen Wechsel der Perspektive, während wir über unsere Situation nachdenken. Und sollte es uns gelingen, den Splitter im Auge herauszuziehen und zu erkennen, was wirklich wichtig im Leben ist, dann werden wir auch in der Lage sein, die Dinge um uns herum in einem anderen Licht zu sehen. Vielleicht werden wir dann sogar erkennen, wie reich wir tatsächlich bereits sind!

1 Kommentar

  1. Ja, die ganz kleinen Kinder haben noch diese neugierig das Umfeld erkundenden „Kinderaugen“. Mutig stehen sie auf aus der Lageorientiertheit des Bodens und erobern sich aufrecht die Welt, noch ohne Angst. Was von unten groß wirkte, wird auf einmal klein und kontrollierbar. Deshalb können sie in dem Alter so viel erlernen und das Laufen auf dem Eis beherrscht ein 4-jähriges Kind ganz spontan, während das zunehmend pubertierende Kind bereits ängstlich nach Leitplanken greift. Von da an beginnt der Splittereinfall ins Auge, die Schule macht keinen Spaß mehr, die Lehrer sind doof, Leistung bedeutet Stress und Angst vor Fehlern und keine spannende Herausforderung mehr. So ist es zumindest tendenziell fast bei allen heranwachsenden Kindern. Leider. Die Schulen fördern dies durch falsche Lehrmethoden.

    Antworten

Antworten auf Evelyne Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert