Die stoische Teststrategie

Kennen Sie das auch: In der Büro-Teeküche, auf der Geburtstagsparty, beim Feierabendbier … ständig und mit großer Lust erzählen Menschen, was ihnen unlängst Schlimmes passiert ist. Und dabei leben all die negativen Gefühle wieder auf, die die erwähnten Missgeschicke und Rückschläge damals auslösten. Die Umstehenden reagieren sofort mit einer eigenen Geschichte über Pleiten, Pech und Pannen. Es klingt fast, als wolle man sich gegenseitig überbieten.

Wir haben offenbar eine Neigung, erlebte Missgeschicke als unglückliche Erfahrung aufzufassen und abzuspeichern. Unser Unterbewusstsein versucht sofort, das Erlebte einzuordnen und bietet uns dazu einen Rahmen an („Framing“ nennt das die Psychologie). Seien wir ehrlich: Am beliebtesten ist der „Schuld-Rahmen“ – wir suchen sofort, wer oder was an unserem Missgeschick Schuld hat: Jemand hat uns Unrecht getan! Oder mehrere haben es auf uns abgesehen! Vielleicht hat sich auch nur das Schicksal gegen uns verschworen! Oder wir schimpfen auf uns selbst! Dies erzeugt immer Ärger und Wut, manchmal auch Frustration oder Angst – keine gute Ausgangssituation, um das Erlebte zu verarbeiten. Wie kann man diese Neigung überwinden? William B. Irvine, ein moderner Stoiker, empfiehlt, was er die „stoische Teststrategie“ nennt: Er rät, alle Missgeschicke und Rückschläge, denen wir begegnen, „als eine Herausforderung an unsere Resilienz und unseren Einfallsreichtum zu betrachten“, d.h. als einen persönlichen (Charakter-) Test!

Dazu muss sich zunächst das Framing ändern, d.h. welchen Bedeutungsrahmen wir einem Ereignis geben. Ob wir nach einem Missgeschick gleich mit einer Schuldzuweisung reagieren oder es als Charaktertest begreifen, hat starken Einfluss auf unsere emotionale Bewertung der Situation. Wenn wir sie NICHT als unglückliche Erfahrung einordnen, sondern als Herausforderung auffassen, ändern wir sofort und grundlegend den Bedeutungsrahmen. Stoiker können also durch geschicktes Framing ihr Unterbewusstsein aus der typischen Reaktionsschleife lösen und ein unglückliches Ereignis in ein Mittel zur Selbstüberwindung verwandeln.

Vielleicht versuchen Sie es einmal, wenn das nächste Mal Ihr Flug gestrichen wird, Ihr Zug ausfällt, die Handwerker nicht kommen, die Präsentationstechnik versagt oder der Wagen nicht anspringt. Trainieren Sie, solche Missgeschicke nicht als Ärgernis oder unverdiente Strafe, sondern als persönliche (Lebens-) Herausforderung – als Selbsttest – anzusehen, für die Sie mit kühlem Kopf den optimalen Umgang schon finden werden. Suchen Sie die richtige Einstellung, mit der Sie solche Missgeschicke zwar nicht kontrollieren können, aber durch die Sie sehr wohl kontrollieren, wie stark sie sich treffen lassen! Entscheidend ist letztlich Ihre innere Einstellung – und da kann die „stoische Teststrategie“ von Irvine schon sehr hilfreich sein!

Näheres dazu, auch mit Beispielsfällen, bei: William B. Irvine, Von der Herausforderung, ein Stoiker zu sein – Eine philosophisches Handbuch für mehr Stärke, Seelenruhe und Resilienz, 246 Seiten, erschienen 2022 im FinanzBuch Verlag.

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