Der Stoizismus wurde vor über 2.000 Jahren in der Antike entwickelt. Daher muss die Frage schon erlaubt sein, was wir als moderne Menschen heute noch damit anfangen können? Die Antwort darauf ist im Prinzip einfach: Wir müssen den Stoizismus in einer modernen Form praktizieren! Allerdings ist das Meinungsbild sehr vielfältig, wenn es darum geht, was Menschen unter einem „Modernen Stoizismus“ konkret verstehen. (Unter diesem Link finden Sie eine interessante Zusammenstellung verschiedene Definitionen auf Englisch.) Aber keine Sorge – es ist nicht so kompliziert, wenn Sie sich an zwei Grundregeln für den praktischen Umgang des modernen Menschen mit dem antiken Stoizismus halten:
1. Die stoische Lebensphilosophie ist in ihrem Wesenskern zeitlos
Die Grundzüge der Stoa sind für uns heutzutage – selbst für Anfänger – gut zu verstehen. Ihre zentralen Erkenntnisse und Werkzeuge, insbes. zur Ethik, sind zeitlose Weisheiten; sie bleiben auch nach 2.000 Jahren für uns relevant. Sie sind aber nur in ihrer Gesamtheit (als Lebensphilosophie) und in ihrem Zusammenwirken zu verstehen, denn sie vermitteln eine Lebenseinstellung. Leider neigen wir heutzutage zum Rosinenpicken. Wir greifen uns gerne aus einer bunter Ratgeberkiste nur die mundgerechten Häppchen heraus, die leicht zu verdauen sind. Aber moderner Stoizismus findet sich nicht in leichtgängiger Ratgeberliteratur, er bietet keine freie Auswahl, was uns gefällt oder was wir gerade gut gebrauchen können. Man muss das gesamte Paket nehmen, wenn man ernsthaft seine Haltung verändern möchte.
2. Moderne Anpassungen sind nur erforderlich, um den Kontext besser zu verstehen
Auch wenn die grundlegenden Erkenntnisse der Stoa – ihre Weisheiten – zeitlos sind, sind dennoch Anpassungen an die „Moderne“ hilfreich; allerdings nur solche Anpassungen, die zu einem besseren Verständnis der Stoa beitragen. Dies ist dort (und nur dort) erforderlich, wo sich im Laufe der Jahrhunderte ein veränderter Kontext entwickelt hat.
- So hat sich durch wissenschaftliche Erkenntnisse unsere Weltsicht verändert, seit wir z.B. erkannt haben, dass sich die Erde um die Sonne dreht und eine Kernspaltung ungeheure Energien freisetzt.
- Durch kulturelle Entwicklung hat sich unser Sprach- und Begriffsverständnis verändert, was dazu führt, dass z.B. der für die Stoa zentrale Begriffe der „Tugend“ heute leicht misszuverstehen ist.
- Aber auch soziologisch und psychologisch haben sich Kontexte verändert. Betrachtet man z.B. unser Verhältnis zur Körperlichkeit, würden die ganz und gar öffentlichen Toiletten des antiken Athen in einer heutigen Innenstadt sicher nicht als schicklich gelten – so wie damals Frauen in kurzen Hosen die Grenzen der Schicklichkeit überschritten hätten.
Dies zeigt nur beispielhaft, wie sehr sich unser kontextuelles Verständnis durch die Entwicklung unserer modernen (westlichen) Gesellschaft verändert hat. Anpassungen sind daher nicht im Kern, sondern nur im Kontext erforderlich, um zu einem zeitgemäßen Verständnis der Stoa zu kommen.
Seien Sie daher immer skeptisch, wenn Stoizismus vermarktet wird und stoische Weisheiten als Ware angeboten werden – auch wenn eine solche Vermarktung „modern“ erscheinen mag. Seien Sie skeptisch, wenn Sie von „modernen Stoikern“ angeblich schnell wirkende, leicht konsumierbare „life-hacks“ dargereicht bekommen, die vor allem Ihre Karriere fördern und Sie vorzugsweise in erfolgreiche Manager und produktive Jungunternehmer transformieren sollen. Tatsächlich geht es im „modernen Stoizismus“ jedoch um das Bewältigen des heutigen Alltags, um das beständige Einüben einer – an Tugenden ausgerichteten – inneren Haltung, die uns auch in der heutigen Zeit noch zu einem gelungenen Leben verhilft.
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