Stoiker sind Grenzgänger

Was erwarten Sie eigentlich vom Stoizismus für Ihr eigenes Leben? Viele werden „Orientierung“ erwarten. Aber bedeutet dies, dass Ihnen ein „Experte“ – meist in jugendlich-dynamischem Selbstbewusstsein – endlich mal sagt, wo es lang geht? Zunehmend häufig werden unter dem Label des „Stoizismus“ Gewissheiten verkündet, die sich ganz dringend und ganz einfach anhören („Wie man einen unbesiegbaren Charakter aufbaut“ oder „Wie Du immer die beste Entscheidung triffst“ oder gar „Wie man auf stoische Art mit Idioten umgeht“). Wer sein Leben an solchen schlichten „Lifehacks“ orientiert, könnte nicht weniger „stoisch“ handeln. Denn wahre Stoiker ringen mit den wichtigen Fragen des Lebens und bleiben auf der Suche. Und so liegt die Bedeutung des Stoizismus auch nicht darin, absolute Wahrheiten zu verkünden, sondern die Menschen vor Aufgaben zu stellen bzw. mit Herausforderungen zu konfrontieren, mit denen sie sich auseinandersetzen und an denen sie wachsen können. Dies lässt sich beispielhaft an zwei zentralen stoischen Prinzipien verdeutlichen:

1. Unterscheide zwischen den Dingen in deinem Einflussbereich und außerhalb: Eine zentrale Botschaft der Stoa liegt in der Unterscheidung zwischen dem, was für uns beherrschbar bzw. kontrollierbar ist, und dem, was wir eben nicht kontrollieren können. Ziel ist es, unsere Bemühungen auf Ersteres zu konzentrieren, statt sie auf Letzteres zu verschwenden. Epiktet bringt dies so auf den Punkt: „Wir müssen aus den Dingen, die in unserer Macht stehen, das Beste machen, und alles andere so nehmen, wie es ist.“ Aber dies ist keine weise Erkenntnis, sondern beschreibt „nur“ eine Grenzlinie. Und wo die Grenzlinie konkret verläuft, kann in jedem Einzelfall anders sein. Also müssen wir im Alltag immer wieder neu einschätzen, was wir selbst in der Hand haben und was außerhalb unserer Möglichkeiten liegt – dies ist die Herausforderung!

In den meisten Fällen des Lebens bleibt die Grenzlinie zwischen dem, was noch beeinflussbar ist, und dem, was nicht mehr änderbar ist, leider unklar. Die stoische Lebensphilosophie kann in diesen Fällen nur den Rat geben, die Situation so gewissenhaft und vernünftig wie möglich zu analysieren. Wenn wir dann alles getan haben, was in unserer Macht steht, um die Grenzlinie zu erkennen, können wir uns in stoischer Gelassenheit üben. Am Ende ist die stoische „Unterscheidungslehre“ jedoch weniger eine praktische Handlungsanleitung als eine beständige Mahnung, dass das Leben oft nicht wie geplant oder wie vorherzusehen verläuft. Der Stoiker ermahnt sich zu akzeptieren, dass seine Handlungen und sein Leben Teil von etwas Größerem sind, von dem er nur ganz wenig kontrollieren kann. Das bedeutet nicht, dass man sich passiv den Ereignissen seines Lebens unterwirft. Gelassenheit kommt vom Akzeptieren der Realität und – gleichzeitig – dem Weitermachen und Nichtaufgeben. Diese Grenze zwischen Handeln und Akzeptieren gilt es immer wieder neu auszuloten! Insofern ist der Stoiker ein ständiger „Grenzgänger“.

2. Unterscheide zwischen dem tatsächlichen Geschehen und deiner Bewertung: Schon Epiktet konnte folgende fundamentale Beobachtung machen: „Es sind nicht die Ereignisse, die Menschen beunruhigen, sondern deren Beurteilungen.“ Daher raten Stoiker, das was tatsächlich geschehen ist, und unsere Bewertung dessen, möglichst auseinander zu halten, d.h. Fakten und Meinungen klar zu trennen. Allerdings verwischen hier die Grenzen leicht. Denn in unseren persönlichen Beziehungen wie auch in gesellschaftlichen Diskussionen neigen wir dazu, unsere Wahrnehmungen und Meinungen als Wahrheiten auszugeben. Und am Ende geht es nur noch darum, unsere „eigene Wahrheit“ gegen die „Wahrheit der anderen“ zu positionieren. Heute kommt es sogar zunehmend dazu, dass Politiker ihnen angenehme Meinungen absichtlich wie (wahre) Tatsachen behandeln. Jedenfalls ist die Grenzlinie zwischen Fakt und Fake oft nur noch schwer zu erkennen.

Die Stoa möchte uns motivieren, die – häufig nur verschwommene – Grenzlinie zumindest wahrzunehmen und uns selbst immer wieder prüfend zu fragen: Was ist tatsächlich belegbares Geschehen – und wo beginnt meine Interpretation und mein Werturteil über das Geschehen? Was ist vielleicht sogar reine Vorstellung, die gar nicht mehr mit der Realität übereinstimmt? Für Stoiker gibt es keine einfache Lösung! Wir müssen uns – jeden Tag von neuem – mit allen Fakten auseinandersetzen und diese nicht vorschnell von unseren Bewertungen überlagern lassen. Aber es lohnt, die Grenzlinie zwischen Tatsachen und Meinungen immer wieder neu auszuloten!

Fazit: Wahre Stoiker sind täglich als Grenzgänger unterwegs. Denn guter Stoizismus bietet keine fertigen Antworten, sondern ein Handwerkszeug, um selbst die passenden Antworten herauszuarbeiten. Das ist anstrengend und erfordert einen Zustand der permanenten Wachheit und Konzentration auf das Hier und Jetzt, um die jeweiligen Grenzlinien im Leben wahrzunehmen. Aber es ist auch lohnend! Denn mit der inneren Haltung eines „Grenzgängers“ werden Sie den schlichten Lösungen und vorgezeichneten Wegen, die Ihnen von anderen leichtfertig angepriesen werden, misstrauen. „Grenzgänger“ lieben die Herausforderung! Und so werden sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen, anstatt auf vorgefertigte „Lifehacks“ zu setzen!

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