Lerne Deine Wut kennen
Immer wieder hört man die Frage: Dürfen Stoiker eigentlich wütend sein? Die einfache Antwort lautet: Stoiker sind Menschen – daher empfinden Stoiker natürlich auch Wut. ABER: Den Unterschied macht, wie sie darauf reagieren!

Um dies gleich vorweg zu sagen: KEINE sinnvolle Reaktion (für Stoiker oder andere) ist es, die Wut zu unterdrücken bzw. den Ärger herunterzuschlucken. Stoiker sind nicht wie „Mr. Spock“, der Vulkanier aus Star Trek, die nie eine Gefühlsregung zeigte (außer dem leichten Heben einer Augenbraue). Und auch wenn Seneca die Wut mit einer „vorübergehenden Geistesstörung“ verglich, sieht der moderne Stoiker darin keine Krankheit, die bekämpft werden muss – allenfalls ein Symptom, das man beobachten und ggf. eindämmen sollte, damit eine Krankheit nicht zum Ausbruch kommt.

Ebensowenig sollte es aber zur Gewohnheit werden, seinen Ärger einfach herauszulassen und seinen Zorn auszuleben. Auch wenn es heute in der politischen Debatte und in Fernseh-Talkshows fast schon zur Normalität gehört, wenn mal wieder richtig „die Fetzen fliegen“, sollten wir uns gleichwohl nicht an Wut und Zorn als festen Bestandteil unsers Lebens gewöhnen! Denn wenn wir einmal ein gewisses Wut-Niveau bei uns akzeptiert haben, kann diese leicht entzündliche Emotion von solchem Nährboden aus wachsen und unkontrolliert aufflammen – wie ein Bündel Reisig im Feuer. Dieses anschauliche Bild verwendet der Stoiker Epiktet: „Wenn du zornig wirst, so bedenke, dass dir nicht nur dieses Übel widerfahren ist, sondern dass du auch deine Neigung zum Zorn verstärkt hast, dass du gleichsam dürres Holz ins Feuer geworfen hast.“ Ein treffendes Bild wäre auch ein Mückenstich, bei dem das Kratzen zwar zunächst Linderung bringt. Aber dann kommt der Juckreiz nur umso stärker wieder und man muss noch stärker und länger kratzen, bis die Haut ganz rot ist. So passiert es oft, dass sich Wut und Ärger immer weiter hochschaukeln und am Ende nur „verbrannte Erde“ hinterlassen.

Ganz besonders gilt dies, wenn wir glauben, in „gerechtem Zorn“ zu handeln. Kaum etwas fühlt sich so großartig an, als wenn wir uns völlig im Recht fühlen und ein vermeintlich begangenes Unrecht anklagen, indem wir ein menschliches Gegenüber – das das Unrecht personifiziert – unseren ganzen Zorn spüren lassen. Das kann ganz banal beginnen – z.B. im Straßenverkehr: Dort richtet sich unser Zorn oftmals schnell auf andere Autofahrer, die sich nicht so verhalten, wie wir es für richtig halten. Je nach Stimmung bzw. Stresspegel können sich Zornausbrüche im Laufe einer kurzen abendlichen Autofahrt vom Büro nach Hause ganz schön aufschaukeln.

Stoiker sind daher zu der Erkenntnis gelangt, dass Wut oder Zorn nie zu einer Verbesserung der Situation führen. Der Stoiker Mark Aurel empfiehlt dazu. „Gib den äußeren Umständen nicht die Macht, deinen Ärger zu provozieren, denn ihnen ist es völlig egal.“ Wer in einem Verkehrsstau feststeckt, muss realisieren, dass es dem Stau egal ist, wenn man sich in seinem Auto darüber ärgert. Auch dem Bus ist es egal, wenn man sich ärgert, ihn knapp verpasst zu haben. Und dem Wartezimmer ist es egal, wenn man sich ärgert, länger in ihm zu sitzen als geplant.

Das heißt: Tatsächlich geht die – immer wieder gestellte – Frage, ob man seine Wut herauslassen oder unterdrücken soll, schlichtweg am Problem vorbei! Denn das Einzige, was (langfristig) gegen Wut hilft, ist: Sich darüber klar zu werden, woher die Wut kommt, was also ihre Ursache ist! Zunächst ist es dazu erforderlich, die Wut und ihre Anzeichen bei uns selbst wahrzunehmen. Dies nennt man Selbstreflexion. Dabei sollte es gelingen, (innerlich) einen Schritt zurückzutreten und – mit viel Ehrlichkeit – darüber nachzudenken, woher die Wut eigentlich kommt. Die Stoa ermuntert uns, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und über ihre Ursachen und Anlässe zu reflektieren. Denn nur wenn wir Wut (und möglichst schon frühe Anzeichen) wahrnehmen und einordnen können, lässt sich vermeiden, dass sie unseren Verstand beeinträchtigt oder gar überwältigt.

Die Analyse, woher die eigene Wut kommt, ist schwierig und immer auch etwas sehr Persönliches. Aber es lassen sich bei genauem Hinschauen oft überraschende Erkenntnisse gewinnen. Wenn Sie sich z.B. ärgern, dass eine Lieferung zu Ihrem großen Fest zu spät kommt, stellen Sie bei genauerer Analyse vielleicht fest, dass es gar nicht der Lieferservice ist, der Ihren Ärger verursacht, sondern Ihr eigener Erwartungsdruck. Oder wenn Sie sich z.B. ärgern, dass Ihr Nachbar einen Baum zu nah an Ihre Gartengrenze pflanzt, stellen Sie bei genauerer Analyse vielleicht fest, dass es nicht der Baum ist, der Ihren Ärger verursacht, sondern Ihr eigener Kontrollzwang.

Tatsächlich ist der Stoizismus ziemlich fordernd. Er erfordert unsere ständige Aufmerksamkeit über die Ursache unserer Gefühle. Und so lässt sich zum Umgang mit Wut, Zorn und Ärger nur empfehlen: Lernen Sie Ihre eigene Wut kennen! Und kommen Sie ins Gespräch mit ihr! Dadurch verschwindet die Wut nicht, aber sie könnte ein guter Bekannter werden. Auf diese Weise kann ein Stoiker ein reiches Gefühlsleben haben, ohne sich von Emotionen überwältigen oder manipulieren zu lassen.

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