Für die Stoiker sind die Menschen nicht von Natur aus böse. Sie sind vernunftbegabte und damit soziale Wesen, die das Potenzial haben, Weisheit und Tugend zu erlangen. Auch wenn es keine von Natur aus bösen Menschen gibt, heißt das natürlich nicht, dass es keine bösen Taten gibt. Allerdings tun die Menschen – nach Überzeugung der Stoiker – nicht absichtlich Böses; sie tun es aus Unwissenheit.
Diese stoische Einstellung soll weder die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt) verharmlosen noch die harte Realität verleugnen. Sie will uns vielmehr vor Augen führen, welche negativen Auswirkungen es hat, wenn Menschen Vernunft und Weisheit „ausschalten“. Wenn das Böse also das Ergebnis von Unwissenheit bzw. von mangelndem Nachdenken ist, muss der Stoiker hier ansetzen – mit Vernunft und Weisheit.
Dies betrifft nicht nur Situationen, in denen andere Menschen unvernünftig handeln (denen wir helfen sollten). Es ist vor allem eine Mahnung an uns selbst, weil wir immer wieder damit rechnen müssen, dass bei unserem eigenen Handeln Vernunft und Weisheit auf der Strecke bleiben. Das kann verschiedene Gründe haben. Oft lassen wir uns durch Emotionen zu unvernünftigem Handeln hinreißen. Oft handeln wir aber auch mit kühlem Kopf bzw. kaltblütig, und dennoch ohne Weisheit. Deshalb sollte sich ein Stoiker immer wieder darin üben, vor dem Handeln den Verstand einzuschalten. Zu oft geschieht es, dass wir Handlungen oder Entscheidungen gerne wieder zurücknehmen würden, weil wir ihre Folgen nicht bedacht haben. Solches Handeln aus „Unwissenheit“ oder „Dummheit“ lässt sich reduzieren, wenn man übt, wichtige Entscheidungen immer zunächst sorgsam zu durchdenken. Dies bedeutet nicht, dass man nicht auch mal spontan sein darf. Jedoch sollte man bei den wichtigen Entscheidungen des Lebens stets innehalten und die Folgen des Handelns bedenken, um im Einklang mit den eigenen Werten zu leben.
Diese Übung sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, ist es aber nicht – und muss deshalb immer wieder trainiert werden.
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