Die Grundfragen der Stoa sind ethischer Natur. Aber es geht dabei weniger um Moral, also um Richtig oder Falsch. Die Stoa formuliert auch keine Absolutheitsansprüche, wie dies Religionen oder Ideologien tun. Der Stoizismus hatte nie die Absicht, eine Doktrin zu sein. Die Stoa hat auch keine Gurus oder geistigen Führer hervorgebracht, sie fordert keinen unbedingten „Glauben“. Sie begründet vielmehr eine Lebensart und vermittelt dazu eine innere Haltung (die durch verschiedene philosophische Übungen erlangt wird) – eine Haltung gegenüber sich selbst, gegenüber den Mitmenschen und der gesamten (Um-) Welt. Sie verzichtet in ihrer Lehre auf endgültige Gewissheiten – es gibt nicht so etwas wie „die zehn Gebote“ der Stoa – und gibt einem lieber praktische Werkzeuge an die Hand, um eigene Erkenntnisse zu gewinnen und sich selbst auszuprobieren. (Seneca soll von sich gesagt haben, er sei kein Arzt, der Lösungen und Heilmittel verschreibe, sondern ein Patient, der anderen Patienten im selben Krankenhaus seinen Behandlungsprozess beschreibe.) Daher hat die Stoa auch nicht den Anspruch, auf alle unsere Fragen (Detail-) Antworten parat zu haben. Sie lässt Raum für eigene Erfahrungen und ermöglicht daher Orientierung. Die Lehre der Stoa fordert uns heraus. Aber sie fordert keine Perfektion, sondern unser Bemühen um das Bestmögliche, wenn wir uns auf sie einlassen.

Der große Gewinn einer Beschäftigung mit der Stoa ist für uns: Sie ermöglicht Perspektivwechsel, die den Blick auf unser Leben verändern. Ihre Anleitung mit praktischen Übungen versetzt uns in die Lage, die Dinge in einem anderen Licht zu sehen. Denn das „Geheimnis“ eines glücklichen Lebens liegt nicht darin, die eigenen Lebensumstände ständig zu verbessern, sondern das was wir bereits haben, mehr wertzuschätzen. Wenn wir unser Leben mit den Augen der Stoiker betrachten, vermögen wir nicht nur die äußeren Begrenzungen zu sehen, die uns unser Alltag mit seinen Routinen und Anforderungen auferlegt, sondern die darin liegenden Spielräume. Mit Hilfe der Stoa können wir nicht nur unsere inneren Beschränkungen erkennen, denen wir durch unsere menschliche Unvollkommenheit unterworfen sind, sondern das Potenzial, das in uns ruht. Ein solcher Perspektivwechsel fällt selten leicht – insofern ist das Praktizieren der Stoa eine tägliche Herausforderung – aber lohnend!