Für die Stoiker ist das wichtigste im Leben und letztlich das einzige, was zählt: ein tugendhafter Charakter. Der Begriff Tugend wirkt heute auf uns eher antiquiert und wird durch (veraltete) christliche Tugend­vorstellungen (von Keuschheit und Reinheit bar jeder Sünde) bestimmt. Von diesen Vorstellungen müssen wir uns für das Verständnis der Stoa von Tugend lösen. Die Stoa meint mit Tugend (areté) etwas, was mehr mit einer charakterlichen Tauglichkeit der Person als mit überkommenen Moralvorstellungen zu tun hat. Tugend im stoischen Sinne grenzt sich aber auch deutlich von anderen antiken Vorstellungen ab – vor allem von einem „kompetitiven“ Tugendverständnis, das sich u.a. in den homerischen Epen findet, in denen sich ein vorzüglicher Mensch dadurch auszeichnet, besonders durchsetzungsstark, leistungsfähig und einflussreich zu sein, bei sportlichen Wettkämpfen zu gewinnen, ein Heer zum Sieg zu führen oder sich als Machthaber zu etablieren. Die Stoiker hielten dagegen eher kooperative und soziale Qualitäten für erstrebenswerte Charaktereigenschaften. Dieses Tugendverständnis gewann mit Ausbildung der demokratischen Gesellschaftsformen noch weiter an Einfluss. Zum näheren Verständnis eines tugendhaften Charakters lassen sich vier Kardinaltugenden unterscheiden (deren Begriffe einer modernen Interpretation bedürfen, die sehr gut nachvollziehbar in Holzingers „Handbüchlein zur Philosophie der Stoa“ gegeben wird):

  • Gerechtigkeit (dikaiosyne) könnte man heute besser mit Fairness übersetzen. Es ist die Fähigkeit, mit anderen gut umgehen zu können, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, sich ihnen (unabhängig von ihrem Status und Ansehen) freundlich zuzuwenden und sie anständig zu behandeln.
  • Mut (andreia) meint heute so etwas wie (Zivil-) Courage. Es ist der Mut, das Richtige zu tun, auch (und gerade) wenn man dafür sogar die eigenen Vorurteile in Frage stellen und über den eigenen Schatten springen muss.
  • Selbstbeherrschung (enkrateia) und vor allem Besonnenheit (sophrosyne) sind weitere wichtige charakterliche Fähigkeiten für einen Stoiker, um – auch in schwierigen Situationen – eine vernünftige Entscheidung treffen zu können.
  • Weisheit (phronesis) meint im antiken Verständnis nicht so sehr eine wissensbasierte, sondern eine angewandte, praktische Weisheit, d.h. eine durch Erfahrung gewonnene Lebensklugheit. Sie zeigt sich in einer Abgeklärtheit im Sinne einer inneren Reife, die zugleich auch alle anderen Tugenden umfasst.

Wer einen tugendhaften Charakter ausbildet, lebt im Einklang mit seiner eigenen Natur als vernunftbegabtes Wesen, aber auch in Harmonie mit der Menschheit und in Übereinstimmung mit der Natur als Ganzes. Denn nach Ansicht der Stoiker haben wir alle bereits von Natur aus das Vermögen, fair, mutig, besonnen und abgeklärt zu sein. Tugendhaft zu sein bedeutet daher, sich ernsthaft zu bemühen, dieses Potenzial in uns selbst zu entdecken und zum Vorschein zu bringen. Dies kann insbesondere durch regelmäßige stoische Übungen gelingen, durch die wir unser Potenzial allmählich weiterentwickeln und schließlich zu der Person werden können, die wir sein wollen.

 „Du bist nicht dein Körper und deine Frisur, sondern die Fähigkeit, richtig zu entscheiden. Wenn deine Entscheidungen schön sind, wirst du es auch sein.“ (Epiktet)

Tugendhaftes Handeln in Einklang mit den eigenen inneren Werten ist das einzige, was uns Zufriedenheit und Erfüllung im Leben bringt. Dagegen können ein guter Job, Geld, Erfolg und Ruhm kein Glück garantieren. Sie können Teile eines glücklichen Lebens sein, aber für sich alleine niemals Erfüllung bieten. Ein gelungenes Leben hängt also im Endeffekt an der eigenen charakterlichen Entwicklung (d.h. an inneren Werten) und weniger an der Anhäufung von materiellem Besitz (d.h. an externen Werten, die niemals vollständig unserer Kontrolle unterliegen).

 „Vertraue nicht auf deinen Ruf, auf dein Geld oder deine Stellung, sondern auf deine innere Stärke: deine Einschätzung dessen, was unter deiner Kontrolle steht und was nicht. Denn das allein macht uns unabhängig und frei, es zieht uns beim Schopf aus den Tiefen empor bis auf Augenhöhe mit den Reichen und Mächtigen.“ (Epiktet)