Eine weitere Unterscheidung ist fundamental in der stoischen Lehre: Die Stoiker raten, unsere Bewertung von dem eigentlichen Geschehen zu trennen.

 „Es sind nicht die Ereignisse, die Menschen beunruhigen, sondern deren Beurteilungen.“ (Epiktet)

Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass wir zumeist nicht auf Ereignisse in der äußeren Weltreagieren; wir reagieren vielmehr auf die Empfindungen in unserem eigenen Körper. Wenn die Empfindung unangenehm ist, reagieren wir mit Ablehnung; ist die Empfindung angenehm, reagieren wir mit Verlangen nach mehr.

Dazu ein Beispiel aus dem Alltag (nach Günther Holzinger): „Nehmen wir an, dass uns zu Ohren kommt, dass ein Bekannter oder eine Arbeitskollegin schlecht über uns gesprochen hat. Normalerweise neigen wir dazu, uns darüber zu ärgern, zornig darüber zu werden, vielleicht auch nach Rache zu sinnen oder den anderen ebenfalls zu verleumden. Wir neigen also dazu, die Sache zu interpretieren und zu bewerten. Zuerst erfahren wir eine Sache und in einem zweiten Schritt bewerten wir diese. Vor allem die Bewertung des Ereignisses trägt wesentlich zu unserer Beunruhigung bei.“

Den Stoikern geht es darum, dass wir bei einer aufkommenden Beunruhigung – sei es aus Zorn oder Angst – einen Schritt zurücktreten und aus der Distanz betrachten, was die Ursache unserer Beunruhigung wirklich ist. Denn dann werden wir in den meisten Fällen erkennen, dass der Auslöser – das tatsächliche Geschehen – ziemlich banal ist. Insbesondere wenn es – wie in dem Beispiel – um Gerüchte oder Hörensagen geht, bleibt bei näherer Betrachtung wenig übrig, was unseren Zorn oder überhaupt eine Reaktion wert wäre. Andere Fälle mögen schwieriger sein – wenn wir z.B. die Diagnose einer Erkrankung erhalten. Auch hier kommt meistens zu dem tatsächlichen medizinischen Krankheitsbild noch unsere subjektive „Bewertung“ in Form von Angst, Unwillen und Abwehrverhalten hinzu, die den Umgang mit der Situation erschwert. Nicht selten entstehen dann in unserer Vorstellung „Worst Case-Szenarien“, die uns emotional viel mehr belasten als es die Krankheit selbst könnte. Stoiker wollen die Situation nicht verharmlosen, wenn jemand schlecht über uns spricht oder wir eine beunruhigende Diagnose erhalten; sie möchten uns vielmehr motivieren, eine Grenzlinie auszuloten: Was ist tatsächlich belegbar objektives Geschehen – und wo beginnt meine Interpretation und mein Werturteil über das Geschehen, was ist vielleicht sogar reine Vorstellung, die gar nicht mehr mit der Realität übereinstimmt?

Wahrscheinlich haben Sie dies schön öfters erlebt: Nach einem Streit zwischen zwei Personen berichtet Ihnen jede der beiden beteiligten Personen getrennt von den Ursachen und dem Verlauf des Streits. Es ist immer wieder verblüffend, wie sehr sich die beiden Darstellungen desselben Vorkommnisses unterscheiden. Denn die subjektiven Vorstellungen der beiden Kontrahenten gehen so weit auseinander, dass man als Zuhörer meint, es wären zwei verschiedene Geschehen. In diesem Fall muss man sorgfältig sezieren, was tatsächliches Geschehnis und was persönliche Bewertung ist. Dies fällt bei der Betrachtung eines Streits dritter Personen schon schwer – umso schwerer fällt die Unterscheidung, wenn wir selbst betroffen und unmittelbar involviert sind. Jedoch wird der Stoiker immer versuchen, diese wichtige Unterscheidung zu treffen.