Zorn und Wut sind Emotionen, die uns – in der einen oder anderen Form und Intensität – im Alltag immer wieder überkommen. Der Umgang mit ihnen ist nicht leicht. Denn das besondere Problem dabei ist: Die Wut und den Zorn herauszulassen, fühlt sich richtig gut an! Es verschafft kurzfristig Erleichterung. Wie bei einem Mückenstich tut das Kratzen zunächst gut; es erfolgt fast automatisch, ohne dass wir realisieren, dass da­durch der Juckreiz nur verstärkt bzw. verlängert wird. Dies geschieht oft mehrfach am Tag, vielfach sogar ohne dass wir es bewusst wahrnehmen. Erst recht und besonders gilt dies, wenn wir glauben, in „gerechtem Zorn“ zu handeln. Kaum etwas fühlt sich so großartig an, als wenn wir uns völlig im Recht fühlen und ein vermeintlich begangenes Unrecht anklagen, indem wir ein menschliches Gegenüber – das das Unrecht personifiziert – unseren ganzen Zorn spüren lassen. Das kann ganz banal beginnen – z.B. im Straßenverkehr: Dort richtet sich unser Zorn oftmals schnell auf andere Autofahrer, die sich nicht so verhalten, wie wir es für richtig halten. Je nach Stimmung bzw. Stresspegel können sich Zornausbrüche im Laufe einer kurzen abendlichen Autofahrt vom Büro nach Hause regelrecht aufschaukeln – bis zu lautem Schreien und wilden Gestikulieren. Dabei ist das Verrückte an der Situation, dass es an Deutlichkeit nicht zu überbieten ist, dass unser „gerechter Zorn“ aus dem hermetisch abgeriegelten Fahrzeug gar nicht zu den anderen Verkehrsteilnehmern durchdringt. Und selbst wenn es das – in Form der Hupe – doch tut, besteht keinerlei Chance, dass sich die Situation in unserem Sinne ändert. Dies zeigt bildhaft die Sinnlosigkeit der Emotion Wut, die am Ende nichts anderes bewirkt, als dass die Lebensqualität sinkt. Dabei wäre es ohne weiteres möglich, die im Auto verbrachte Zeit zu genießen. Warum fällt uns das – immer wieder – so schwer?

Stoiker behaupten nicht, dass sie ein schnell wirkendes Allheilmittel an der Hand haben. Aber man kann durch stetiges Üben eine Einstellung gewinnen, die verhindert, dass uns Wut oder Zorn beherrschen, und die es ermöglicht, zunehmend Kontrolle (zurück) zu gewinnen. Entscheidend dafür ist ein selbstkritischer distanzierter Blick auf uns selbst, mit dem wir die Anlässe und Auslöser von Wut oder Zorn erkennen und einordnen können. Um die richtige Einstellung zu erlangen, sind drei grundlegende Erkenntnisse der Stoiker hilfreich.

Erkennen, dass man sich selbst am meisten schadet

Die wichtigste und schwierigste (Selbst-) Erkenntnis ist, dass Wut oder Zorn nie zu einer Verbesserung der Situation führen. Dem Stau ist es egal, wenn man sich in seinem Auto ärgert, dass es nicht weitergeht. Dem Bus ist es egal, wenn man sich ärgert, ihn knapp verpasst zu haben. Dem Wartezimmer ist es egal, wenn man sich ärgert, länger in ihm zu sitzen als geplant.

„Gib den äußeren Umständen nicht die Macht, deinen Ärger zu provozieren, denn ihnen ist es völlig egal.“ (Mark Aurel)

Dies gilt auch, wenn nicht abstrakte Umstände, sondern konkrete Menschen Gegenstand des Ärgers sind. Denn selbst wenn es sich zunächst „gut anfühlen“ mag, anderen mal so richtig eine Standpauke zu halten, ist der Nutzen tatsächlich gering und der Schaden für uns selbst hoch, nicht nur für die Gesundheit, sondern generell für die Lebensqualität.

„Der Zorn und Kummer, den wir durch die Handlungen der Menschen empfinden, sind härter für uns als diese Handlungen selbst, über die wir uns erzürnen und betrüben.“ (Mark Aurel)

Wir haben es durch unsere Reaktion selbst in der Hand, ob eine Situation eskaliert. Wenn wir beispielsweise eine Äußerung als persönliche Beleidigung verstehen und die Stimme erheben, um wütend zum Gegenschlag auszuholen oder verärgert zur Selbstverteidigung anzusetzen, dann – und erst dann – wird tatsächlich eine Beleidigung im Raum stehen, die nur schwer wieder aus der Welt zu schaffen ist. Durch unsere wütende Reaktion richten wir also selbst Schaden an – was vermeidbar wäre.

„Denke daran: Nicht derjenige, der es auf dich abgesehen hat und dich angreift, schadet dir – nein, der Schaden entsteht erst dadurch, wie du über diese Misshandlung denkst. Wenn also jemand deinen Ärger hervorruft, bedenke, dass es deine eigene Meinung ist, die den Ärger entfacht. Stattdessen sollte deine erste Reaktion sein, dass du dich von solchen Eindrücken nicht überwältigen lässt, denn mit genug Zeit und Distanz wird Selbstbeherrschung viel einfacher erlangt.“ (Epiktet)

Erkennen, dass andere es nicht besser wissen

Wenn wir erst einmal erkannt haben, dass wir uns durch Wut und Zorn selbst am meisten schaden, ist der erste Schritt getan. Im zweiten Schritt richten wir den Blick auf unser Gegenüber, um zu erkennen, dass es der andere oft nicht besser weiß. Für die Stoiker sind alle Menschen potenziell vernunftbegabt, handeln aber aus Unwissenheit oder mangelndem Nachdenken immer wieder unvernünftig. Insbesondere Mark Aurel, der Stoiker-Kaiser, plädiert daher dafür, Fehlverhalten mit Nachsicht, nicht mit Zorn zu begegnen. Während seiner Amtszeit war er oft in Situationen, in denen sich andere Menschen ihm gegenüber anmaßend oder feindlich verhielten, so dass er Emotionen wie Wut oder Ärger fühlte. In diesen Situationen erinnert er sich selbst daran, dass ihr Verhalten daher kommt, dass sie nicht wissen, was im Leben wirklich zählt und dass sie, wenn sie ein besseres Verständnis davon hätten, so nicht handeln würden. Das verringert den Ärger. Zudem hilft die Vorstellung, dass man selbst nicht ohne Fehler ist.

„Wenn dir jemand etwas antut, überlege sofort, ob er dabei Gutes oder Schlechtes im Sinn hat. Wenn du das erkannt hast, wirst du Mitleid haben, anstatt dich zu wundern oder wütend zu sein. Vielleicht hast du dieselbe oder eine ähnliche Auffassung von Gut du Böse, sodass du ihm seine Tat verzeihen kannst. Wenn du aber nicht derselben Auffassung bist, wirst du eher bereit sein, gegenüber seinem Fehler nachsichtig zu sein.“

„Wann immer du dich über die Fehler von jemandem ärgerst, richte deine Aufmerksamkeit sogleich auf ähnliche Fehler, die dir selbst unterlaufen sind – etwa Geld oder Freuden oder Ruhm als erstrebenswertes Gut anzusehen – oder was auch immer es sei. Wenn du darüber nachdenkst, wird dein Ärger schnell verfliegen. (Mark Aurel)

Erkennen, dass Zorn sich leicht verselbständigen kann

Viele Menschen haben sich damit abgefunden, dass Ärger zu ihrem Leben gehört und finden es ganz normal, wenn mal „die Fetzen fliegen“. Dies ist aber ein Irrtum. Wir sollten uns nicht an Wut und Zorn als festen Bestandteil unsers Lebens gewöhnen. Denn sie können sich leicht verselbständigen. Und wenn wir einmal ein gewisses Wut-Niveau bei uns akzeptiert haben, kann diese leicht entzündliche Emotion von diesem Nährboden aus wachsen und unkontrolliert aufflammen – wie ein Bündel Reisig im Feuer.

„Wenn du zornig wirst, so bedenke, dass dir nicht nur dieses Übel widerfahren ist, sondern dass du auch deine Neigung zum Zorn verstärkt hast, dass du gleichsam dürres Holz ins Feuer geworfen hast. (Epiktet)

Besonders problematisch ist, dass sich Wut und Zorn leicht zu Gewalt auswachsen können. Jeder Gewaltakt beginnt mit einem von Wut oder Zorn erzeugten gewalttätigen Wunsch in irgendjemandes Kopf, der den Seelenfrieden dieses Menschen stört, bevor er den Frieden von irgendjemand anderem zerstört.

„Es gibt nichts, was einen mehr betäubt als Wut. Nichts ist so sehr auf seine eigene Kraft fokussiert. Wenn sie Erfolg hat, ist nichts so arrogant, wenn sie scheitert, ist nichts so wahnsinnig. Da sie selbst in der Niederlage nicht an Kraft verliert, greift die Wut sich selbst an, wenn das Schicksal ihr den Feind entzieht.“ (Seneca)

Was ist also zu tun? Um Ataraxia, Gemütsruhe, zu erlangen, geht es nicht darum, Wut oder Zorn zu unterdrücken. Dies ist so unnütz wie ein Deckel auf einem immer heißer werdenden Topf. Vielmehr sollten wir versuchen, aufkommende Gefühle wie Wut und Zorn frühzeitig wahrzunehmen und darüber nachzudenken, woher sie kommen.Wenn es uns gelingt, einen Schritt zurückzutreten und die Anlässe bzw. Ursachen eines Wutausbruchs zu reflektieren, dann erkennen wir schnell, wie sinnlos dies alles ist – der Zorn auf einen Stau im Verkehr ebenso wie auf eine Wartezeit beim Arzt, eine Verspätung des Zugs oder einen kaputten Automat.

Vielleicht probieren Sie auch einmal aus, Humor als Mittel gegen Wuteinzusetzen. Anstatt über Unzulänglichkeiten ihrer Mitmenschen wütend zu werden, lässt sich manchmal über die Situationskomik eines verkorksten Augenblicks lachen. Stellen Sie sich dazu – möglichst bildlich – vor: Sie stehen als Schauspieler auf der Bühne eines absurden Theaterstücks, umgeben von Mitspielern, die ein Drehbuch voller Zufälle, Pannen und Peinlichkeiten aufführen. Wenn man dieses Stück als Realität begreift, müsste man erzürnen, als Zuschauer eines Theaterstücks wird man über seine Absurditäten vielleicht schmunzeln können. Man erkennt: Die Stoa fordert uns – um eine stoische Einstellung zu finden – immer wieder zu einem Wechsel der Perspektive auf.